Kindheitsmuster
wechselnden Wind, der natürlich seinen eigenen Schatten wirft. Jetzt aber scheint das Bewußtsein selber, verstrickt in die Vorgänge, über die es sich erinnernd erheben sollte, einer Teil-Verdüsterung zu unterliegen. Es scheint Mit-Urheber jener Verdunkelung zu sein, die du mit seiner Hilfe erhellen willst. Die Aufgabe wird unlösbar. Doch bleibt es dabei, daß Erfindungen ausscheiden und die Erinnerung an Erinnerungen, die Erinnerung an Phantasien nur als Informationen aus zweiter Hand verwendet werden können, als Spiegelungen, nicht als Realität.
(Adolf Eichmann, liest du, habe ein außerordentlich schlechtes Gedächtnis gehabt.)
Es kann doch einfach nicht wahr sein, daß plötzlich weniger geschah. Es ist, als schippe man in der Wüste Sand gegen den Wind, damit eine bestimmte Spur nicht vollständig verweht.
Nelly muß, knapp zwölfjährig, in die Reihen der Führerinnenanwärter übergewechselt sein, die nicht in den Klassenräumen einer Schule, sondern in einem eigenen »Heim« ihren Dienst taten: drei, vier karge Räume unter dem Dach des ehemaligen Wohlfahrtshauses, welchesheute noch am alten Platz steht. Gewiß gab es Aufnahmezeremonien, gewiß strengere Regeln, die man einzuhalten hatte, um sich in den Pflichten eines künftigen Vorbildes zu üben. Ganz sicher ist Nelly alles andere als unberührt davon geblieben. Aber keine dieser an Gewißheit grenzenden Vermutungen läßt sich in ein Bild bringen, als Satz wörtlich zitieren. Nur ein Bild und ein Satz haben sich für diesen Zusammenhang erhalten, die aber mit aller Deutlichkeit: Vor der Tür des Bibliotheksraums ihrer Schule trifft Nelly mit Dr. Juliane Strauch zusammen, die die Bibliothek verwaltet, erschrickt, wie immer, wenn ihr Fräulein Strauch begegnet (obwohl sie ja heimlich diese Begegnungen sucht), grüßt mit Heil Hitler!, wird aber nicht einfach wiedergegrüßt, sondern von der Lehrerin um die Schulter gefaßt und durch eine klingende Anrede ausgezeichnet: Bravo, Mädel. Von dir hätte ich auch nichts anderes erwartet.
Wenn einer sagen würde, Nelly hätte, um diesen Satz zu hören, noch ganz anderes auf sich genommen als den Beginn einer Führerrolle in der Hitler-Jugend, hätte er wohl recht. Und was Juliane Strauch, Deutsch- und Geschichtslehrerin, genannt Julia, betrifft, könnte das Gedächtnis überhaupt nicht besser intakt sein. Ihr Gesicht, ihre Gestalt, ihr Gang und ihr Gehabe sind seit neunundzwanzig Jahren unversehrt in dir erhalten, während sonst die Erinnerung an jene Zeit, die von ihr beherrscht wurde, eher fetzenhaft geblieben ist. Als hätte sie Nellys gesammelte Aufmerksamkeit allein auf sich gezogen.
(Vielleicht darf man aus solchen Beobachtungen keine voreiligen Schlüsse ableiten, am wenigsten Analogieschlüsse. Aber könnte es nicht sein, daß – abgeseheneinmal von den besonderen Gesetzen der Gedächtnisbildung in der Kindheit – ein langsamerer, gewissermaßen gründlicherer Gang des Lebens eine bessere Voraussetzung zur Entwicklung jener Gehirnpartien ist, die sich das Leben einzuprägen haben, als die immer noch zunehmende Eile, mit der Personen, Gegenstände, Ereignisse an uns vorbeitreiben und die »Leben« zu nennen wir uns fast scheuen? Die Ukrainerin, die in diesen Tagen, aufgeschreckt durch die Nachricht vom Tod ihrer Mutter, aus ihrem zwanzigjährigen lethargischen Schlaf erwacht ist, wäre vielleicht imstande, Aussagen zu machen über die womöglich verwirrende Nichtübereinstimmung ihrer inneren Uhr mit dem Verschleiß der Zeit, an den ihre Umgebung sich inzwischen gewöhnt haben mag. Mit einer seltsamen Rührung hört man sie ja einen Satz sagen, der, obwohl scheinbar eine Allerweltsaussage, doch aus einer anderen, uns unwiderruflich versunkenen Welt aufzusteigen scheint: Ich möchte gerne leben. – Vielleicht, denkt man, setzt eine bestürzende Erfahrung wie die ihre einen Menschen instand, diesen Vorsatz auszuführen. Schwächere Mittel scheinen bei uns nicht mehr anzuschlagen.)
Wie dem auch sei: Wenn du auch nicht gerade behaupten willst, du könntest Nellys erste Begegnung mit Julia Strauch beschreiben – es wird ein flüchtiges Aneinandervorbeigehen auf der Schultreppe gewesen sein –, für die wahrheitsgetreue Wiedergabe ihrer letzten Begegnung kannst du dich jedenfalls verbürgen. (Nach dieser hat es nur noch flüchtige Zusammentreffen in der Turnhalle der Hermann-Göring-Schule und im großen Tanzsaal des Lokals »Weinberg« gegeben – Örtlichkeiten, die um Januar 45 für die
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