Kindheitsmuster
der Hitler-Jugend (an der sie selbst sich mit Säcken und Handwagen beteiligt.) Rundfunkverbrecher wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt. Ein Foto, Kamerad Frau: Mütter am Pflug. Zum Einsatz kommt der modernste Nahaufklärer der Welt: Focke-Wulf 189. Gefallenen-Anzeigen bedecken mehr als eine Zeitungsseite: »Geliebt, beweint und unvergessen!« Das V-Zeichen wird zum Symbol des Sieges an allen Fronten. Herbst 1941: »Das Schicksal der Sowjets vollzieht sich in diesen Herbsttagen.« Als Weihnachtsmärchen gibt das Stadttheater für seine kleinen und großen Besucher den »Däumling«. Nelly sieht Hans Albers in »Trenck, der Pandur«, Heinz Rühmann in »Hauptsache, glücklich!«, Willy Birgel in »... reitet für Deutschland«, Luise Ullrich in »Mutterliebe«, Ilse Werner in »U-Boot westwärts«.
Wir schreiben das Jahr 43.
In der Vorweihnachtszeit richten die Führerinnen des Jungmädelstandorts für die Offiziere und Unteroffiziere der Genesungskompanie eine Weihnachtsfeier im »Weinberg« aus. Charlotte hat Pfefferkuchen gebacken, Schnäuzchen-Oma Pulswärmer gestrickt. Auf den Tischen liegen weiße Papiertischdecken. Ein Tannenbaum mit Lichtern. Gemeinsames Absingen von Weihnachtsliedern.
Nellys Tischherr ist ein beinverletzter Unteroffizier namens Karl Schröder. Er ist der erste Mann, der sich ihr in aller Form vorstellt, wozu er sich halbwegs vomStuhl erhebt und eine Verbeugung andeutet: Gestatten? Er hat schwarzes Haar, das ihm in einer kühnen Ecke in die Stirn wächst, und blasse, bläulich schimmernde Wangen. Er ist es peinlicherweise, der sich am eifrigsten an den Spielrätseln beteiligt, die von den Jungmädeln in Form von Scharaden vorgeführt werden. Er ruft die Lösung als erster in den Saal, schnippt dabei mit dem Finger wie ein Schuljunge. Nun darf er sich als Belohnung ein Lied wünschen. Da wünscht er sich: »Was müssen das für Straßen sein, wo die großen / Elefanten spazierengehn, / ohne sich zu stoßen.«
Er ist aus Brandenburg an der Havel. Nichtsdestotrotz könne er jodeln, sagt der Unteroffizier, der einmal für kurze Zeit bei einer Gebirgsjägereinheit gewesen ist. Man fordert ihn auf, seine Kunst zu zeigen. Sofort jodelt er und wird stark beklatscht. Nun sei er doch so ein lustiges Haus, sagt er zu Nelly, als sie bei Likör und Schnaps sind, aber bei Frauen habe er kein Glück. Dafür sei er bei seinen Vorgesetzten gut angeschrieben. Alles könne der Mensch eben nicht haben, obwohl es ihm manchmal hart ankomme, so alleine.
Er ist schon dreiundzwanzig.
Er hat kleine, sehr schwarze Augen. Wenn sein Arm, den er um Nellys Stuhllehne gelegt hat, ihre Schulter berührt, entschuldigt er sich und nimmt den Arm weg. Unsereins zieht eben immer wieder den kürzeren, sagt er. Nächste Woche kommen wir sowieso alle an die Ostfront, dann Heimat ade.
Die Herren Offiziere bekommen vom Dienstrangältesten eine Stunde Ausgang, um ihre Damen nach Hause zu bringen. Nelly warnt den Unteroffizier vor dem weiten Weg, aber es ist ihm Ehrensache, sie zu begleiten.Darüber hinaus ein echtes Herzensbedürfnis. Ob sie ihm das glaube? Er fragt, als hinge von ihrer Antwort sein Leben ab. Sie könne einfach nicht ahnen, was diese Stunden für ihn bedeuteten.
Nelly weiß ungefähr, was sie empfinden müßte. Ihr Wissen ist für die Katz. Sie konzentriert sich darauf, mit dem hinkenden Unteroffizier Schritt zu halten. Sie überlegt, ob es angängig ist, ihren Arm aus dem seinen zu lösen, oder ob man einem verwundeten Frontkämpfer die Stütze nicht entziehen darf. Sie muß ihn hindern, sie zu küssen, was allerdings keine allzu große Mühe macht. Es stellt sich heraus, daß er ideal veranlagt ist und das gleiche bei ihr voraussetzt. Der Mond, sagt er, wenn der da so ruhig am Himmel steht und Wolken fahren darüber hin, das gibt mir was. Ob es ihr auch was gebe. Ja, sagt Nelly. Schon. – Er hat gewußt, daß zwischen ihnen eine Seelengemeinschaft bestand. Das habe man nicht oft, sie könne ihm das glauben.
Charlotte Jordan liegt, wie erwartet, trotz der Kälte im Fenster und trägt ihr Teil dazu bei, daß der Abschied sich nicht in die Länge zieht. Karl Schröder weiß Gefühl in seinen Händedruck zu legen. Sie hören von mir, sagt er noch.
Charlotte weist ihre Tochter darauf hin, daß sie erst vierzehn ist und daß Soldaten, ehe sie an die Front kommen, auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen, in gewisser Hinsicht. Nelly weiß das doch. Dann solle sie den Unteroffizier nicht wiedertreffen.
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