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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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überaus fleißige deutsche Männer, von ihrer Arbeit besessen und über nichts so verzweifelt wie über Unverständnis und Nachlässigkeit in ihrer Umgebung, die sie hinderten, diese ihre Arbeit musterhaft auszuführen.
    Die Alliierten, als ihnen die ersten Nachrichten aus den Vernichtungslagern zugeleitet wurden, haben sie nicht veröffentlicht. Grund: Sie konnten nicht an sie glauben. Sie wollten sich nicht der Greuelpropaganda schuldig machen. Wir Heutigen trauen Menschen alles zu. Wir halten alles für möglich. Wir wissen Bescheid. Vielleicht ist dies das Wichtigste, was unser Zeitalter von den vorangegangenen trennt.
    Vielleicht ist es unerläßlich, daß dieses Wissen wieder verlorengeht.
    Jetzt: Auftritte, die Nelly, mühelos, wie es scheint, absolvierte.
    Beim Harmloseren anzufangen: Lazarettsingen. Die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt an der Friedeberger Chaussee war im Krieg Lazarett. Keiner fragte sich, wo die Irren geblieben waren, in deren Betten nun die Verwundeten lagen. Unter Anleitung der Gruppenführerin Christel hatte auch Nelly mit ihrer Schar ein schönes Programm einstudiert, eingedenk der stillschweigenden Übereinkunft, daß Verwundete leichte Kost brauchten. Der »General-Anzeiger«, dessen Korrespondent ein Lazarettsingen schildert, verzeichnet kein einzigesKampflied der Bewegung, auch nichts Kriegerisches, dafür: »Ich bin ein Musikante« und »’s ist mir alles a Ding, / ob i lach oder sing, / i hab a Herzele wie a Vögele, / darum lieb i di aa so ring.«
    Hoho-Rufe und Beifall der Leichtverwundeten. Die Schwerverwundeten, in deren Saal es süßlich roch, obwohl alle Fenster aufstanden, und die nur ein einziges Lied hören durften, wünschten sich: »Rosemarie, Rosemarie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie.« – Nelly sah an den Einbuchtungen der Bettdecke, daß manchen von ihnen Gliedmaßen fehlten: Beine, Arme.
    Am Ende sangen die Jungmädel auf dem Flur für alle »Lili-Marleen«, bis auch den letzten die Rührung überkam. »Wenn sich die späten Nebel drehn ...« Und ganz zum Schluß sangen die verwundeten Kameraden in ihren Betten den Jungmädeln als Dank ihrerseits ein Lied. Sie sangen: »Argonnerwald, um Mitternacht, / ein Pionier steht auf der Wacht, / Ein Sternlein hoch am Himmel stand, / zeigt ihm den Weg ins ferne Heimatland.« Sie hörten nicht auf zu singen. Sie blickten an die Decke, es war dunkel geworden, die Jungmädel mußten sich davonschleichen, hinter ihnen sangen die Verwundeten: »Fern bei Sedan / auf der Höhe / steht ein Infantrist auf Wacht, / neben seinem / Kameraden, / den die Feindeskugel tödlich traf.«
    Am Abend ist es immer am schlimmsten, sagte die blonde junge Schwester, die den Jungmädeln den Ausgang zeigte. Charlotte, die ihre Tochter bei offenem Fenster erwartete, sagte bloß: Wer gibt den armen Ludern ihre heilen Knochen zurück!
    Nun war es aber weit nach sechzehn Uhr, an jenem Sonnabend, dem 10. Juli 1971, in G., vormals L. (eswar die Stunde nach jener Erholungspause in dem neuen Café). Nun konnte man aber endlich ins Hotel.
    Nelly hat als Kind weder dieses noch ein anderes Hotel betreten, Lenka gibt sich weltläufig beim Empfang des Schlüssels. Eure Zimmer liegen im Parterre. Die Tageshitze hängt in den Räumen. Durch Analogieschlüsse aus dem Russischen könnt ihr zum Glück den polnischen Hinweis auf eine Dusche im ersten Stock entziffern. Schlüssel bei der Rezeption.
    Da gehn wir mal zusammen hin, ja?
    Okay.
    Duschen wie diese, sagt Lenka dann, findet sie schlau. Ohne alles Brimborium, einfach mit graublauer Ölfarbe gestrichen, und am Fußboden der Lattenrost. Sie dreht die Hähne voll auf, erlaubt dir, ihr den Rücken abzuseifen, du sagst, Fräulein Hering, sie erwidert: Wart’s nur ab. Sie singt aus vollem Halse: »Wir singen alle otschen karascho.« Du gibst zu bedenken, die Kabine könnte nicht schalldicht sein. I like you, sagt Lenka darauf.
    Dann sieht sie sich mit Badekappe in dem Spiegel, der schnell beschlägt. Ohne Haare, sagt sie, könnte sie in jedem Horrorfilm auftreten. Später übergibt sie ihrem Onkel den Schlüssel zur Dusche, verkündet ihren Entschluß, ein bißchen zu pennen, und legt sich auf das Bett am Fenster, das durch die Nachttische von deinem getrennt ist. Du bist fast eingeschlafen, da sagt sie mit wacher Stimme: Genaugenommen könnte man Heulkrämpfe kriegen.
    Du weißt sofort, was sie meint.
    Wenn sie daran denke, daß vielleicht gerade jetzt, während sie gemütlich im Bett liegt, irgendwelche

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