Kindheitsmuster
auch das massenhafte Auftreten von Tätern und Mit-Tätern bezeichnet. Sosehr auch gewisse Entdeckungen, vorab die von der Brauchbarkeit des Gases Zyklon B als Massenvernichtungsmittel für Menschen – das zuerst an 900 sowjetischen Kriegsgefangenen im alten Krematorium von Auschwitz ausprobiert worden war –, auf den Kommandanten Höß »beruhigend wirkten«, »da ja in absehbarer Zeit mit der Massenvernichtung der Juden begonnen werden mußte, und noch war weder Eichmann noch mir die Art der Tötung dieser zu erwartenden Massen klar. Nun hatten wir das Gas und auch den Vorgang entdeckt.«
Was verlangst du von Lenkas Geschichtsbuch? Daß es den Lauf der Zeit aufhält? Unglückliches Bewußtsein auf die kommenden Generationen überträgt? Verhindert, daß all und jedes, auch die Greueltat, verblaßt?
Neulich, genau heute, Anfang März 1974, vor vierzehn Tagen, sagte Bruder Lutz während einer Geburtstagsfeier in der Familie (alte Fotoalben, Erinnerungen):Den Emil Dunst, den hätt ich damals umbringen können. Den hab ich gehaßt wie die Pest.
Die Kinder hatten keine Ahnung, wer Emil Dunst gewesen war: Der Großonkel von euch, der die Bonbonfabrik hatte. Unter den Fotos war eines, das sein Grab zeigte, Tante Trudchen fotografiert leidenschaftlich gerne reich geschmückte Gräber naher Verwandter. »Hier ruht fern der Heimat mein lieber Mann ...« (Das sah Tante Olga ähnlich.) Mensch, sagte Bruder Lutz, Emil Dunst, das war dir ein Früchtchen. Kannst du dich erinnern, wie er im Sommer 45 – wir schliefen in Bardikow noch in der Scheune – plötzlich auftauchte, um uns schon von weitem zuzurufen: Daß euer Vater tot ist, das wißt ihr ja wohl? Den haben die Russen doch umgebracht. – Mensch! Erwürgen hätt ich den können.
Mit Gas hat Emil Dunst es vormals selber versucht. Die kleinen lustigen Flämmchen rund um die Bonbontische, welche die Masse warm und geschmeidig hielten, waren ja Gasflämmchen. Wenn man den Gashahn öffnete, ohne die Flämmchen anzuzünden, dazu den Tisch rundum mit Decken verhängte, dann erlangte das Gas unter dem Tisch eine Konzentration, die ohne weiteres ausreichte, um zwei Personen – Onkel Emil Dunst und die früher schon erwähnte Frau Lude – ins Jenseits zu befördern. So drückte Gottlieb Jordan, Heinersdorf-Opa, es dann aus: Die haben sich ins Jenseits befördern wollen. Schubiack, der! Sein Gefühl unterschied genau zwischen einem Unglücklichen und einem, der sein Selbstmitleid zur Schau stellte.
Heinersdorf-Opa hat die beiden gefunden. Ein Anblick, den er seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Er, jawohl:er selber hat sie unter dem Tisch hervorgezogen und hat später oft und oft gesagt: Hätt ich sie man bloß liegenlassen. Hätt dem Mädel viel erspart.
Das Mädel ist Tante Olga, die nicht imstande ist, ihren Mann vor die Tür zu setzen, wie Charlotte Jordan es damals, im Sommer 45, mit Emil Dunst nach eigener Aussage ohne weiteres getan hätte, hätte sie nur eine Tür gehabt, vor die sie ihn hätte setzen können. So hat sie ihn nur angefahren, als er ihr den Tod des Mannes meldete: Halt doch dein ungewaschenes Maul!, und er, nicht leicht zu kränken, hat ungerührt erwidert: Na bitte. Wer nicht hören will, muß fühlen.
In der freien Natur verkommen die Sitten schnell. Immerhin lag Charlotte eine wenn auch unsichere Nachricht vor, daß ihr Mann lange nach dem Tag, an dem er laut Emil Dunsts Aussage erschossen worden war, an einem weit entfernten Ort noch lebend gesehen wurde.
Die lange vergessenen Gesichtszüge des Emil Dunst sind dir immer wieder hinter dem Buch des Auschwitz-Kommandanten erschienen, als Antwort auf die Frage, ob du jemanden gekannt hast, der in diesem Buch eine Rolle spielen könnte. Emil Dunst! Er hätte den Anforderungen genügt. Du erinnerst dich, wie bestimmte Worte aus seinem Munde kamen. Polackenpack. Judengesindel. Russenschweine. Er paßte an jeden Platz der Vernichtungsmaschinerie, die jener Höß beschrieb. Er paßte an die Rampe. Unter die Begleitmannschaft. Unter die Selektionierer. Unter die, die die Gashähne aufdrehn. Als Aufseher an die Verbrennungsöfen. Er paßte unter die Mannschaften, die abends in ihren Quartieren zusammenhocken und ihr Selbstmitleid in Schnaps ersäufen.Daß du es nicht vergißt: Auch vom »inneren Schweinehund« hat er oft gesprochen, den Rudolf Höß so erfolgreich in sich überwand.
Nur eines hat ihm allerdings gefehlt: die Tüchtigkeit. Traurig zu sagen: Emil Dunst war faul. Eichmann und Höß waren
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