Kindheitsmuster
Charlotte würde die Absage ohne weiteres selbst übernehmen, aber als Karl Schröder anruft, ist Nelly zuerst am Telefon. Ihr Bescheid trifft ihn hart, aber nicht unvorbereitet. Menschen wie er haben kein Glück. So erlaube er sich denn,ihr für ihren ferneren Lebensweg alles erdenklich Gute zu wünschen. Ob er hoffen dürfe, daß hin und wieder ein Gedanke von ihr ihm nacheilen werde. – Er dürfe hoffen.
Nun denn: Auf Nimmerwiedersehen.
(In diesen Tagen – März 74 – veröffentlichten die Zeitungen ein Foto mit einem Appell auf der chilenischen KZ-Insel Dawson. Mit der Lupe erkennt man den Ausdruck der Gesichter – finster, verschlossen –, unter ihnen den Ausdruck auf dem Gesicht des JosØ Toha Gonzales, Vizeministerpräsident unter Allende. Das Foto zeigt ihn noch lebend. Du versuchst dir die Leute vorzustellen, die den im Rollstuhl Sitzenden erwürgen werden. Es müssen Durchschnittsgesichter gewesen sein. Aber darf man seine europäische Erfahrung auf andere Kontinente übertragen? Kennt man in anderen Gegenden der Welt den Folterer noch unter den Alltagsgesichtern heraus? Und wäre das ein Vorzug zu nennen?)
Die Gesichter der Zeugen im Auschwitzprozeß – 1963 im Römer von Frankfurt am Main. Die I. G. Farben haben in ihrem werkeigenen KZ – Monowitz – die durchschnittliche Lebenserwartung eines für sie arbeitenden Häftlings auf vier bis sechs Monate angesetzt. Die SS hat ihnen zugesichert, daß alle schwachen Häftlinge abgeschoben werden können. SS und I. G. arbeiten das wirtschaftliche Akkordsystem gemeinschaftlich aus, die I. G. nimmt Anteil am Ausbau des Strafsystems. Gerade diesen Platz zum Bau eines Werkes hat der Werkleitung ein Gutachten empfohlen, weil die »Bodenverhältnisse, Wasser und Kalk, und das Vorhandensein von Arbeitskräften – z. B. Polen und Häftlinge des KZ Auschwitz – die Anlage der Fabrik begünstigten.«
Und abends die Fragen der jungen Leute, Studenten in Frankfurt, die sich in ihren spärlich möblierten Wohnungen über den Prozeßverlauf ereiferten: Sie schienen am Grund eurer Seele oder eures Gewissens ein schauerliches Geheimnis zu vermuten. Ihre Forderung nach der Auslieferung deines Geheimnisses traf dich unvorbereitet. Du warst daran gewöhnt, schauerliche Geheimnisse und das Unvermögen oder die Weigerung, sie mitzuteilen, bei den Älteren vorauszusetzen. Als ob die Pflicht, an die eigene Kindheit Hand anzulegen, dir erlassen werden könnte. Dabei rückt wie von selbst im Laufe der Jahre jenes Kinderland in den Schatten der Öfen von Auschwitz.
Das Geheimnis aber, nach dem wir suchen, ist die platte Geheimnislosigkeit. Vielleicht ist es daher unauflösbar.
Im Herbst 1943 hockte Nelly in einer Reihe mit Ukrainerinnen beim Kartoffellesen auf den Feldern der Domäne. Was sie den Fremden gegenüber empfand, war nicht Mitleid, sondern Scheu, ein starkes Gefühl von Anderssein, dem kein Geheimnis zugrunde lag, sondern Julia Strauchs Geschichtsunterricht: Anders heißt wertvoller. Nelly durfte ihre Kartoffeln nicht mit einer Ostarbeiterin in den gleichen Korb lesen. Hat sie sich Gedanken gemacht über die Suppe, die aus einem besonderen Kübel für die ukrainischen Mädchen geschöpft wurde? Wäre ihr die Idee gekommen, aufzustehen, über den Abgrund von dreißig Schritten zu den Ostarbeiterinnen zu gehen, die am gleichen Feldrand saßen, und einer von ihnen den eigenen Essennapf zu geben, in dem Fleisch schwamm?
Das schauerliche Geheimnis: Nicht, daß es nicht gewagt,sondern daß es gar nicht gedacht wurde. Vor dieser Tatsache bleiben die Erklärungsversuche stecken. Die übliche Gedankenlosigkeit des Satten gegenüber dem Hungrigen erklärt es nicht. Furcht? Gewiß, wenn da überhaupt eine Versuchung bestanden hätte. Die Versuchung aber, das Selbstverständliche zu tun, kam nicht mehr an sie heran. Nelly, unschuldig, soviel sie wußte, vorbildlich sogar, saß da und kaute ihr Fleisch.
Immerhin hat nicht sie sich bei Julia beschwert, als der Gutsaufseher, ein beinamputierter Invalide, die deutschen Mädchen in Gegenwart der Ukrainerinnen wegen nachlässiger Arbeit beschimpfte. An ihr wäre es gewesen, Julia in Kenntnis zu setzen, denn sie leitete die Arbeitsgruppe. Aber sie schämte sich wegen der schludrigen Arbeit vor den Ukrainerinnen, die mit keinem Blick zu erkennen gaben, ob sie den Vorfall verstanden hatten. Ihre Freundin Hella dagegen informierte Julia telefonisch, und der Aufseher mußte sich am nächsten Morgen bei ihnen entschuldigen. Nelly
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