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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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schämte sich, das war alles.
    Eines Nachts benötigte ihre Mutter in Abwesenheit des Vaters – Kameradschaftsabend im Wehrbezirkskommando – dringend ärztliche Hilfe. Die Sache, von der Nelly nur vage Vorstellungen hatte, duldet so wenig Aufschub, daß Nelly gegen elf von ihrer Mutter geweckt wird, deren Blässe und Gesichtsausdruck sie zu Tode erschrecken. Sie hat sich nur das Nötigste überzuziehen und Frau Blankenstein zu holen. Nelly fliegt. Frau Blankenstein scheint Bescheid zu wissen und stellt keine Fragen. Ins Telefon hinein sagt sie dann: Aber schnell, schnell. Die Frau verblutet ja.
    Verblutet. Aber die Mutter ist doch nicht verwundet.Man trägt sie auf einer Trage hinaus. Daß sie, Nelly, ein großes Mädchen sei und sich entsprechend zu verhalten habe, kann sie ihr noch sagen. Frau Blankenstein fügt dem »groß« noch ein »tapfer« hinzu, ehe sie geht.
    Nelly hat eine Stunde lang auf den Vater zu warten. Es stellt sich heraus, daß für die Weitergabe bestimmter Informationen zwischen Tochter und Vater die Worte fehlen. Der Vater scheint sowenig überrascht wie Frau Blankenstein. Also hatte die Mutter recht, als sie sich beklagte, er habe sie allein gelassen, obwohl er wußte, es ging ihr nicht gut. Nelly will seine Verlegenheit und Bestürzung nicht noch durch Schuldbewußtsein steigern. Sie sieht, ihr Vater ist der Lage nicht gewachsen. Ihm eine Erklärung abzuverlangen kommt nicht in Frage. Ihr Unvermögen, miteinander zu reden, kommt an den Tag. (Es war aber eine Nachtszene: Vater und Tochter in der Schlafzimmertür, trübes Licht, das Bett der Mutter zerwühlt, das des Vaters unberührt; Nelly im Schlafanzug, der Vater in Unteroffiziersuniform, ohne Mütze. Halbe Sätze.) Der Vater umspannt mit der Hand den Oberarm seiner noch nicht erwachsenen Tochter. Wird schon alles gut werden. – Dann schickt er sie ins Bett.
    Am nächsten Tag muß sie hören, daß es so, wie es gekommen ist, am allerbesten war: Noch ein Kind, erbarm dich, in diesen Zeiten! Das sagt Tante Lucie zu ihrem Vater, der der gleichen Meinung ist. Der Mutter geht es besser, viel besser. Nelly darf sie besuchen. Ich weiß, was los war, sagt sie: Ein Kind.
    Wenn du es weißt, dann ist es ja gut, sagt Charlotte.
    Mehr soll darüber nicht geredet werden.
    Nelly darf endlich gehen und sich die Haare abschneidenlassen. Die Friseusen kichern untereinander über ihre Unbeholfenheit. Die Krause wird zu stark. Aber das mache ja nichts, dann halte sie länger. Nelly steht lange vor dem Spiegel und zieht an ihren Haaren. Davon werden sie weder länger noch glatter. Vor dem Schlafengehen bindet sie sich ein Tuch fest um den Kopf, das die Haare in Form halten soll. Wenn sie im Bett liegt, muß sie sich neue Frisuren ausdenken, die sie schöner machen würden. Sie weiß nicht mehr, wie sie ihre Glieder bewegen soll, um ihr Ungeschick zu verbergen. Sie versteht die Mädchen nicht, die einfach durch ihren Gang zu verstehen geben, daß sie in Einklang mit ihrem Körper sind.
    Vom Wehrbezirkskommando kommt Richard Andrack, Bruno Jordans Freund, der von Beruf Fotograf ist, und knipst die Familie Jordan vor ihrer hellen Hauswand. Jeden einzeln, dann alle gemeinsam. Als er Nelly ihr Foto gibt, sagt er: Nun, hier zeigt sich’s ja, wer in der Familie die Schönste ist. Unteroffizier Andrack ist ihr eigentlich sympathisch. Auf dem Foto sieht man, wie die eingelegten Falten der Bluse über der Brust aufspringen.
    Was man nicht sehen kann – Nelly lacht auf dem Bild –, ist eine Art Auszehrung, die rapide schnell um sich greift und auf die Nelly, die sich nichts erklären kann, mit Anfällen von Schwermut antwortet. Es will ihr nicht gelingen, die Beschädigung der Fingernagelränder einzustellen. Mußt du dir denn selber weh tun, Kind!, aber sie kann es nicht lassen, obwohl sie fühlt, daß sie etwas Verwerfliches tut. Sie bestraft sich durch den Entzug der Süßigkeiten. Dann plötzlich holt sie, fast ohne Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, denSchlüssel zum Lagerraum und versorgt sich mit großen Mengen von Borkenschokolade, die sie im Bett aufißt. Dabei ist ihr gräßlich wohl. Sie kann es körperlich spüren, wie ihre Achtung vor sich selbst weiter schwindet.
    Am nächsten Tag geht sie mit bloßen Füßen zehnmal über den eisernen Fußabtreter vor der Haustür. Gott sieht alles. Es ist nicht wahr, daß die Strafe die Sünde aufhebt.
    Lieblosigkeit ist ein schauerliches Geheimnis.

12
    Hypnose.
    Griff nach dem Wörterbuch, das, gut und gerne seine

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