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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Amisirgendwelche Leute aus einem vietnamesischen Dorf umbringen, dann finde sie sich selbst zum Kotzen. Brauchst nichts zu sagen, sagt sie, ich weiß, daß ich Blödsinn rede, aber vielleicht ist es noch schlimmerer Blödsinn, ruhig zu schlafen, während diese Sachen passieren.
    Vielleicht sei überhaupt das allerschlimmste, daß alle Leute sich an alles gewöhnen können.
    Was dir zuerst einfällt und was du unterdrückst, sind Beschwichtigungen. Du willst nicht, daß sie jetzt schon irre wird. Du willst nicht, daß jetzt schon jener Ausdruck von Eingeweihtsein auf ihrem Gesicht sich bildet, den du von dem deinen nicht mehr herunterkriegst: Erzählt mir bloß nichts! Ich durchschau das sowieso!
    Nicht zuletzt der Fähigkeit, sich zu gewöhnen, sagst du, verdanke aber die Menschheit ihr Überleben als Gattung.
    Ist mir alles klar, sagt Lenka. Und wenn die Menschheit sich jetzt an diese Sachen gewöhnt, die sie als Gattung umbringen? Na? Was nun? Sag mal was.
    Ja, sagst du. Vielleicht, daß man selber die Verrücktheit nicht in sich reinlassen darf.
    Beg your pardon?
    Ich meine die vielen Leute, die felsenfest glauben, was die meisten denken und tun, sei normal.
    Ach die, sagt Lenka. Kenn ich.
    Und?
    Gar nichts und. Die gehn mir unheimlich auf die Nerven. Aber leid tun können sie mir auch.
    Und du hast keine Angst, wenn du ganz was anderes denkst als sie?
    Angst? sagt Lenka. Wo ich doch sehe, was mit denen los ist?
    Und wenn sie dir auf den Leib rücken, ernsthaft?
    Dann krieg ich eine blödsinnige Wut und fange an zu brüllen.
    Aber daß sie recht haben müssen, weil sie doch die meisten sind – die Idee kommt dir nicht?
    Nee, sagt Lenka. Ich bin ja nicht lebensmüde. Oder wie seh ich das: Kommt dir die Idee?
    Von mir wollten wir eigentlich nicht reden. Wir wär’s mit Schlafen?
    Ablenkungsmanöver, sagt Lenka.
    Das Zimmer lag zum Hof. Ein Kraftfahrer rangierte seinen Wagen in eine schattige Ecke, dann wurde es still.
    Übrigens, sagte Lenka noch, schon leise, ich hab mich neulich sehr mit Ulli gestritten.
    Und worüber?
    Wir haben doch »Mario und der Zauberer« gelesen. Ich find es eines der tollsten Bücher, nebenbei gesagt. Ich hab gesagt, aus unserer Klasse würde dem Zauberer keiner widerstehen.
    Und Ulli?
    Der hat mich beschimpft: Warum ich mich ausnehme. Ob ich soviel klüger sei als die anderen. Bin ich ja nicht. Aber ich glaub, den würde ich durchschauen.
    Würdest du? sagst du noch, fast schlafend und merkwürdig zufrieden. Was dann kommt, kennst du ja, es ist wieder dieser Beerdigungszug. Diesmal bewegt er sich auf einem weißen Kiesweg hart am Rande der Ostsee entlang, rechter Hand siehst du die ganze Zeit über kleine Wellen mit weißen Schaumkronen, den Strand.Vorne an der Spitze des Zuges spielt eine Kapelle »Unsterbliche Opfer«. Die Leute um dich herum, die alle schwarz gekleidet sind, aber keinen Anstoß an deinem grauen Alltagsmantel nehmen, nennen dir die Namen der prominenten Teilnehmer an der Beerdigung. Aber du kennst sie ja. Aus einer Tonsäule am Wegrand hörst du die Stimme eines bekannten Reporters, der fast weinend ausruft: Nun betritt er den Saal, der für ihn mit so vielen teuren Erinnerungen verknüpft ist ... Wieso Saal? denkst du, weil du ja weißt, was kommt: Der Zug stockt vor einem riesigen unbehauenen Feldstein am Rande des Friedhofs, auf dem nichts steht als ein Name: Stalin. Die Leute im Trauerzug sind jedesmal verwirrt: So ist er schon tot? Er liegt da schon? Und wen beerdigen wir eigentlich?
    Wann, fragst du H., dem du den Traum zum erstenmal erzählst, werden wir auch darüber zu reden beginnen? Das Gefühl loswerden, bis dahin sei alles, was wir sagen, vorläufig, und dann erst werde wirklich gesprochen werden?
    H. glaubt, daß ihr leben müßt mit euren Traumschichten aus den verschiedenen Zeiten. Daß ihr euch hüten müßt, in Träumen zu leben: Dann hätten diese Zeiten euch untergekriegt. Er, der für alles ein Zitat hat, zitiert den Meister Eckhard. Die entscheidende Stunde ist immer die gegenwärtige. Du, sagt er, lebst auf Zukunft hin. Ich nicht. Ich lebe heute, jetzt. Jeden Augenblick.
    Die schwersten Schäden, die man euch zugefügt hat, werden nicht zur Sprache kommen. Die lebenslangen Folgen des Kindheitsglaubens, einmal werde die Welt vollkommen sein.
    Im April 1940 liest Nelly im »General-Anzeiger«, daß die Holzsandale erfunden ist: »Wir laufen bezugsscheinfrei«. Rezepte für fleischloses Frikassee und einen Leberwurstersatzaufstrich. Papierschlacht

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