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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Astrid, wie sie später berichtete, stark und scharf: Halt! dachte, als Herrn Andracks Hand der Rechten von Tante Liesbeth nahe war. Danach dachte Astrid so lange Band, Band, Band, bis Richard Andrack eben dieses Band behutsam aus Tante Liesbeths Hand nahm, wozu diese sich nicht enthalten konnte tief aufzuseufzen.
    Später hat Astrid ausgesagt, es sei »sehr anstrengend« gewesen. Die Textstelle, die Richard Andrack wirklich und wahrhaftig fand und zur sprachlosen Bewunderung aller Anwesenden vortrug, stand in dem Roman »Der Löwe« von Mirko Jelusich und kann gelautet haben: »Der Löwe steht auf einem hohen Sockel, so daß er geradewegs in des Herzogs Zimmer hereinzublicken scheint. Er hat den Kopf hoch aufgeworfen, und jeder Muskel seines vorwärts strebenden Leibes ist gespannt, als sei er im Begriff, sich auf einen Feind zu stürzen. Die Augen funkeln zornig, und Kampfbegier und das stolze Bewußtsein unüberwindlicher Kraft sprechen aus seiner Haltung.«
    Schön! sagt Tante Lucie. Aber fast alle fühlen, es ist nicht nur schön, es ist ergreifend schön, und aufregend obendrein. Tante Trudchen sind direkt Schauer den Rücken rauf und runter gelaufen. Es fehlt ihr, seit sie geschieden ist, doch ein bißchen an ausgefallenen Erlebnissen. Nur Charlotte Jordan findet nicht nur Trudchens Entäußerung, sondern die ganze Veranstaltung in hohem Maße unpassend und sähe es gerne, wenn sie zu einem schnellen Abschluß käme.
    Doch Herr Andrack – ein wenig ermüdet, das schon, aber infolge Gewöhnung an Konzentration doch nicht übermäßig angestrengt – kann Tante Trudchen die dringliche Bitte, noch eine Probe seiner »wirklich unglaublichen« Fähigkeiten zu geben, einfach nicht abschlagen. Nur erbittet er sich als Führerin dieses Mal Fräulein Nelly, in der er einen starken, unverbrauchten Geist vermutet. Irgendeine Art von Schädigung – dies sagt er lächelnd zu Charlotte – ist ja in keinem Falle zu gewärtigen.
    Bruder Lutz, der bei Herrn Andrack im Kinderzimmer Wache hält, vermeldet, sie hätten die ganze Zeit lang über verschiedene Panzertypen gesprochen.
    Herrn Andracks warme Hand umspannt Nellys Handgelenk. Sie ist angehalten zu denken. Sie denkt. Die Wörter laufen Gefahr, wie lebende Wesen aus ihrem Kopf zu springen. Bravo, Fräulein Nelly. Ich verstehe. Jawohl. Ich verstehe genau.
    Herr Andrack zieht Nelly zum Büfett an der Rückwand des Eßzimmers. Er schneidet ein Stück von der Cremetorte, die dort noch steht, hebt es vorsichtig auf ein Goldrandtellerchen und überreicht es, indem er sich tief verbeugt, Schnäuzchen-Oma. Während sie nun aber die Torte verzehrt, gibt Herr Andrack, immer noch Nellys Weisungen folgend, den bei Kommiß und Hitler-Jugend beliebten Tischspruch zum besten: Es ißt der Mensch, es frißt das Pferd, / doch heute sei es umgekehrt!
    Auch Onkel Walter muß anerkennen, daß es sich hier um eine Leistung handelt. Alle Achtung. Nelly erklärt auf Befragen, soweit sie wisse, habe sie am Schluß nicht mehr in genau abgegrenzten Wörtern gedacht. Vielmehr habe zwischen ihr und Herrn Andrack eine Art Gedankenstrom bestanden. Herr Andrack ist ganz genau der gleichen Meinung. Er hat Fräulein Nelly zu danken. Fast wäre es dahin gekommen, daß er ihr die Hand geküßt hätte, aber Charlotte, in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit, weiß gerade noch zu verhindern, daß man sich lächerlich macht. Nelly, Kind, du bist wohl so lieb und holst die Zitronencreme.
    Sie gönnt mir nichts, sagt Nelly in der Küche vor sich hin.
    (Wie jeder Einkauf hier, fordert der Einkauf eines neuen Farbbandes einen ausdrücklichen Entschluß. Was zum Beispiel heißt schon »Farbband«? Typewriter ribbon. Der Besitzer des großen Ladens in der College Street, ein Indonesier, ist nach deinem ersten fachunkundigen Versuch, dich in den Dutzenden von Farbbändern verschiedener Typen zurechtzufinden, mit der obligatorischen Verkäuferfrage: Can I help you? dir zur Seite. »No Purchase needed!« steht als Schild hinter seiner Ladentür, aber er gibt nicht Ruhe, bis auch für die geborgte Reiseschreibmaschine Marke »Olympia« das passende Farbband gefunden ist.)
    Damals, im Sommer 1971 (mein Gott! Beinahe drei Jahre ist es her!), an jenem unmenschlich heißen Sonnabend, der abends um acht immer noch warm genug war, habt ihr nicht einmal annäherungsweise herausfinden können, wo einstmals die kleinen Sträßchen nördlich des Marktes verlaufen sein müssen. Lenka, nicht wie ihr mit den Veränderungen

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