Kindheitsmuster
ernstlich hat rückgängig machen wollen. Es zeigte sich übrigens, daß sie insgeheim – obwohl vollkommen ahnungslos – doch darauf vorbereitet worden war. Signale, die nicht Worte waren, hatten sie erreicht. Eines der letzten war der Blick eines kleinen Jungen. Er kam, wie seine Mutter, die hochschwanger war, aus Posen – heute Poznań –, und Nelly, die wie alle Mädchen ihrer Klasse nicht mehr zur Schule ging, sondern Flüchtlinge »betreute«, kümmerte sich besonders um diese beiden; sie wollte sich nicht darüber beruhigen, daß eine Frau unterwegs in einer fremden Stadt womöglich ohne Hilfe ein Kind zur Welt bringen sollte, während sie zugleich nicht aufhören konnte, sich um ihr anderes Kind, eben den kleinen Jungen, zu sorgen. Sie holte die Hebamme zu der Frau. Die musterte sie kurz, aber gründlich, faßte dann ihre Füße an und erklärte: Solange sie so kalte Füße habe, komme die Geburt sowieso nicht in Gang. Da solle sie sich bloß keine Schwachheiten einbilden. Nelly versuchte ihre Mutter dringlich zu überreden, den Jungen zu sich zu nehmen, damit die Frau in aller Ruhe im Krankenhaus entbinden könnte. Charlotte, gewiß nicht ohne Mitgefühl, wich aus. Als letzten Grund für ihre Ablehnung nannte sie, so schonend sie konnte, die Möglichkeit, daß sie vielleicht selber bald aufbrechen müßten. Und wie sollte die Mutter den Jungen dann je wiederfinden?
Darauf konnte Nelly nur grell und verächtlich lachen: grell, weil diese Möglichkeit so absurd war, verächtlich, weil nun auch die Mutter, wie alle Erwachsenen, die abwegigsten Ausreden heranzog, um nur kein Risiko einzugehen, wenn einmal ein Mensch Hilfe wirklich nötighatte. Die unterlassene Hilfeleistung an dieser Frau und ihrem Jungen ist Nelly lange nachgegangen. Diese zwei ihr unbekannten Leute waren es, an die sie, vierzehn Tage später selbst »auf der Flucht«, öfter denken mußte als an alle ihre Freunde, die ihr plötzlich und – wie sie genau zu wissen glaubte – zumeist auf immer entrissen oder, richtiger gesagt, entschwunden waren. Als sie durch Nachzügler erfuhren, am Krankenhaus, wo sich eine SS-Einheit verschanzt hatte, sei gekämpft worden, dachte sie an die Frau, die inzwischen dort liegen mochte (die Einschläge der Geschosse sind übrigens noch heute in der Fassade des Gebäudes zu sehen; du zeigtest sie Lenka beim Vorbeifahren). Ihr Junge aber konnte mit einem Kindertransport Gott weiß wohin geraten sein, und daß seine Mutter ihn je wiederfand, war nicht so sicher. Heute noch, wenn ein westlicher Sender immer noch Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes durchgibt, fragst du dich nach dem Schicksal des Jungen und seiner Mutter, aber eine Gewissenslast ist es dir nach all den Jahren nicht mehr.
Das allerletzte Zeichen dafür, daß sie im Grunde Bescheid wußte, ohne unterrichtet zu sein, kam Nelly aus ihrem eigenen Körper, der sich, da ihr eine andere Sprache durchaus verwehrt war, in seiner Weise ausdrückte. Charlotte Jordan, in gewissen Augenblicken zum Gebrauch ungewöhnlicher Wörter fähig, nannte den Zustand ihrer Tochter bündig einen »Zusammenbruch«. Womit sie verriet, daß sie dem Kamillentee mit Honig, den sie Nelly einflößte, nicht allzuviel zutraute.
Zuerst weinte Nelly bloß, dann kam das Fieber hinzu. »Nervenfieber«, behauptete Charlotte. Es war eben alles ein bißchen zuviel für sie. Aber was denn eigentlich?Diese Arbeit in den Flüchtlingslagern? Nun: Sie übertrieb sie vielleicht ein bißchen, andererseits war sie schließlich kein Hämchen und vertrug einen Puff. Auch an jenem Nachmittag hatte sie im »Weinberg« die Flüchtlingskinder um sich versammelt, nachdem das Geschirr abgewaschen war, hatte ihnen das Märchen vom Fundevogel erzählt, mit ihnen gespielt und gesungen. Julia, Dr. Juliane Strauch, auch hier Herr der Lage, ging mit ihrer großen Roten-Kreuz-Tasche von einer Flüchtlingsfamilie zur anderen, hockte sich zu ihnen ins Stroh und verteilte Medikamente und gute Ratschläge. Es war deutlich, daß sie ein Beispiel gab, und Nelly zögerte nicht, ihm zu folgen.
Ganz und gar genügte als Anerkennung ihr das Kopfnicken, das sie von Julia empfing, als sie, da ein neuer Treck angekündigt wurde, an der Ausgangstür zusammentrafen. Es war dunkel geworden. Beim Abladen ging es wie immer geschäftig, aber doch nicht eigentlich verzweifelt zu, bis plötzlich durch einen unvorhergesehenen Vorfall die allgemeine Stimmung, besonders aber Nellys Gemütslage umschlug. Der Säugling, ein
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