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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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erschrocken. Eher, wie man erschrickt, wenn man etwas wiedererkennt, dort, wo man es nie und nimmer vermutet hätte. Ein Sog, meinst du, geht nicht aus von diesem überschweren Nichts?
    Eh du zu spekulieren anfängst – sagte Lutz –: Es gibt bisher keinen physikalischen Beweis für die Existenz der schwarzen Löcher. Die Hälfte aller Astrophysiker hält sie für einen Fehlschluß aus der Unschärfe einer Theorie. Für einen Rechenfehler, wenn du so willst.
    Du würdest, als Astrophysiker, zu dieser Hälfte gehören.
    Ganz recht. Und du würdest dich zur andern Hälfte schlagen.
    Und du hättest, fragtest du Lutz, keine Bedenken, Hilfskonstruktionen aufzurichten gegen die Erkenntnis, daß es schwarze Löcher gibt?
    Nein, sagte Lutz. Keine. Du überschätzt nämlich beträchtlich die Anzahl der Menschen, die bereit und in der Lage sind, mit schwarzen Löchern zu leben. Mir kommt es nicht unwürdig vor, die vielen anderen, die das weder können noch wollen, bei Laune zu halten.
    Wie wär’s mit dem Ersatzwort Hoffnung?
    Nach Belieben, sagte Lutz.
    Du fragtest: Sollte aber nicht Täuschung – auchSelbsttäuschung – erst ganz am Ende der Versuchsreihe erlaubt sein? Weit hinter dem Verlust des Glaubens?
    Du sagst es, Schwester. Doch woher willst du wissen, daß wir nicht ganz am Ende der Versuchsreihe sind?
    Hör mal, sagtest du: Positionswechsel – das geht gegen die Regeln.
    Im Auto wart ihr euch schnell einig, daß man sich heute, in der unerhörten Hitze, die schon wieder aufstieg, dem östlichen Teil der Stadt (Konkordienkirche, Krankenhaus) und ihren nördlichen Ausläufern an der ehemaligen Friedeberger und Lorenzdorfer Straße zuwenden würde.
    »Zusammengebrochener Ereignishorizont« – das hat sich festgehakt. Nellys Zustand in jenen Monaten konnte kaum zutreffender beschrieben werden. Sie glaubte sicher zu wissen, daß sie nicht mehr nach Hause zurückkehren würde, gleichzeitig aber hielt sie den Endsieg noch immer für möglich. Sie fauchte ihren Großvater an, der mit seinem zahnlosen Mund den Krieg für »verspielt« erklärte.
    Was sie sah, roch, schmeckte, tastete, hörte – verzerrte Gesichter, sich hinschleppende Gestalten, den Mief der wechselnden Nachtquartiere, die laue Kaffeeplärre aus den Blechkannen der Rotkreuzhelferinnen, den Bettensack, den sie steinhart gesessen hatte, die Flüche und Schimpfwörter bei der Verteilung der Schlafplätze – alles wurde registriert, aber es war ihr durchaus nicht erlaubt, Gefühle daraus zu formieren wie: Verzweiflung, Mutlosigkeit. Seitdem wußte sie – und vergaß es nicht –, daß Gefühlstaubheit wie Tapferkeit aussehen kann, denn die rühmte man nun an ihr: Sie ist ja wirklich tapfer für ihr Alter.
    Monate später, im Mai, las sie in den Augen eines US--Offiziers, daß er sie ernstlich für geisteskrank hielt, aber daß sein beinah erschrockener Blick dies und nichts anderes bedeutete, verstand sie wiederum erst Jahre danach.
    Auch daß die Leiden der Älteren von denen der Jungen scharf getrennt sind, hätte man damals lernen können. Doch es gab keinen, der nicht selber litt, und darum gibt es heute keinen zuverlässigen Zeugen. Für die Alten – für die, die seit Jahren vom Tod gebrabbelt hatten, um den Widerspruch der Jüngeren zu hören – wurde es Zeit, zu schweigen; denn was jetzt vor sich ging, das war ihr Tod, sie wußten es gleich, sie alterten in Wochen um Jahre, starben dann, nicht schön der Reihe nach und aus den verschiedensten Gründen, sondern alle auf einmal und aus ein und demselben Grund, mochte man ihn Typhus nennen oder Hunger oder ganz einfach Heimweh, was ein überaus triftiger Vorwand ist, um daran zu sterben. Der wirkliche Grund für ihren Tod aber war: Sie wurden vollkommen überflüssig, eine Last für die anderen, deren Gewicht ausreichte, sie vom Leben zum Tode zu befördern, besonders wenn sie dieses Gewicht – wie Nellys Urgroßvater Gottlob Meyer es tat – mittels einer Schlinge um den Hals an einem festen Nagel an der Wand aufhängten. Er hat nicht mit Tochter und Schwiegersohn – den Heinersdorf-Großeltern – weggehen wollen, als sie im Mai 45 dazu gezwungen waren. Nachbarn fanden ihn und überbrachten die Nachricht von seinem Tod. Gott sei Dank, soll Heinersdorf-Oma gesagt haben.
    Die Uhr von Urgroßvater, sagtest du auf dem Weg zur Lorenzdorfer Straße zu Bruder Lutz, die hast dunun auch nicht geerbt. – Nein, sagte Lutz. Du – um die hat’s mir lange leid getan. Die hätt ich ihm bei seiner

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