Kindheitsmuster
tränenreichen Umarmungen, den ersten Kurzberichten hinüber und herüber, begann der große Zank zwischen den beiden Schwestern Charlotte Jordan und Liesbeth Radde. Ein Zank, der von da an tagtäglich aus kleinen Sticheleien und Wortklaubereien bis zur großen Szene sich steigerte und die zweieinhalb Jahre vergiften sollte, die siegezwungen waren, mit ihren Familien zusammen zu leben. Dutzende von Haßausbrüchen, Schimpftiraden, Weinkrämpfen, stummen, beklommenen Mahlzeiten. Zwei Schwestern, die einander nichts schenken können.
Nelly konnte damals nicht wissen, daß es nicht in ihrem Belieben stand, ruhig und manierlich miteinander umzugehen. Daß sie an jedem neuen Tag, den der liebe Gott werden ließ – so sagte es Charlotte –, erneut das Schlachtfeld betreten mußten, weil in der grauen Vorzeit ihrer Kindheit die Frage aller Fragen: Was bist du wert? falsch gestellt worden war: Wer ist mehr wert als der andere? Und weil seitdem der Kampf, beschwichtigt bis jetzt durch Trennung und mildere Umstände, für immer unentschieden zwischen ihnen hin und her ging. (Erst als Charlotte im Sterben lag, brach ein Strom verzweifelter Schwesterliebe aus Liesbeth Radde, die keiner ihr nun glauben wollte außer dir: Durch den Tod der einen Schwester war der Kampf entschieden, die andere konnte endlich lieben.) Manchmal, wenn sie zu streiten anfingen, war es so, als machten sie sich an eine ihnen selbst lästige, ja verhaßte Arbeit, die aber nun einmal getan werden mußte, und wer sollte sie auf sich nehmen, wenn nicht sie?
Charlotte, um ein Beispiel zu geben, mußte nur unvorsichtig genug sein – wie sie es in der ersten Stunde nach ihrer Wiederbegegnung in der Schule in Wittenberge war –, die Strapazen zu erwähnen, die sie hinter sich gebracht: Diese Fußmärsche durch das zerstörte Berlin, diese Bombenangriffe, diese Irrfahrten! Schon verfiel Liesbeth in ihren gereizten Ton und suchte die Schwester mit eigenen Leiden zu übertrumpfen. Dannwurde von beiden Seiten ein mit »schon immer« eingeleiteter Vorwurf ins Feld geführt: Schon immer hatte Charlotte die Leistungen der jüngeren Schwester nicht für voll genommen. Schon immer hatte Liesbeth versucht, sich bei der Mutter auf Kosten der Älteren lieb Kind zu machen. (Walter, der Bruder, war immer außer Konkurrenz gelaufen; so sah er jetzt den Entäußerungen seiner Schwestern stumm und neutral zu.) Es kam der Augenblick, da eine der anderen, erfolglos natürlich, den Mund zu verbieten suchte. Schließlich trennte man sich im Zorn voneinander, mit steifem Genick, hackenklappernd, Kopf und Türen werfend.
Es kam vor, daß Schnäuzchen-Oma, die stumm in ihrer Ecke hockte und heimlich die Tränen wegwischte, in die Stille hinein sagte: Nun ruhen alle Wälder. Worauf beide Töchter sich vereint gegen sie wendeten. Als sie starb, meinte jede der beiden, nicht genug auf sie achtgegeben zu haben. Onkel Walter aber, der in Westberlin lebte und keinen Fuß hinter den eisernen Vorhang setzen wollte, schickte einen Kranz. Auf dessen Schleife stand in Goldbuchstaben: »Der lieben Mutter als letzter Gruß«. Liesbeth nahm sich das Recht, das Verhalten des Bruders zu schmähen. Zu erben gab es nichts. Die wenigen schlechten Kleider von Auguste Menzel wurden teils der Lumpensammlung, teils der Volkssolidarität zugeführt.
Dieser Sommer ist auch vorbei. Das Rascheln welker Pappelblätter auf dem Balkon, ein schmerzliches Geräusch, sosehr man den Herbst lieben mag. Dieser Herbst ist es also – denkst du, und zugleich, mit Charlottes Worten: unberufen, toi, toi, toi! – in dem der Fluß dieser Erzählung zu seinem Ende kommen soll: EinIrrtum, wie sich zeigen wird. Charlotte würde an Holz klopfen, oder an ihre eigene Stirn. 1974. Der sechste Herbst nach ihrem Tod. Der war beschlossene Sache, als sie dir das kleine Transistorradio, das du ihr ins Krankenhaus gebracht, und die Bücher wieder mitgab, wobei sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch mehr aufkommen ließ, sagte: Es gibt Wichtigeres. – Dann hatte sie es nur noch mit sich zu tun.
Der Herbst, der uns unsere Schwächen einzeln vorführt und uns unerbittlicher als andere Jahreszeiten das Netz unserer Gewohnheiten aufdeckt, in das wir verstrickt sind. Ihr fangt an, euch zu fragen, was alles ihr niemals wissen werdet, weil ihr nicht darauf eingestellt seid, es zu erfahren. – Lenka, wenn solche Gespräche anfangen, schiebt ihren Stuhl zurück und geht vom Tisch. Sie duldet es nicht, daß ihre Eltern über das
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