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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Beerdigung gerne nachgetragen, wo er doch keine Orden hatte. Die hätt ich mir gerne an einen Ehrenplatz an die Wand gehängt. Ich weiß noch genau, wie sie aussah und wie es sich anhörte, wenn er den Deckel aufspringen ließ. – Ich auch, sagtest du.
    Da ruht kein Segen drauf, soll der Urgroßvater zu Heinersdorf-Oma gesagt haben, als sie, selbst weit über sechzig, ihr Haus verließ. Er hat ja recht behalten. Sie, Nellys zweite Großmutter, ist im Juni 1945 bei Bernau an Unterernährung gestorben, so lautete der Totenschein, und es bedeutete, daß sie verhungert ist. Immerhin bekam sie ein Grab, das gepflegt wird und auf dem man zum Totensonntag einen Kranz niederlegt.
    Anders steht es mit den verstreuten Gräbern der drei anderen Großeltern. Schnäuzchen-Opa, der als nächster an Typhus starb und in dem Dorfe Bardikow in Mecklenburg beerdigt wurde, liegt an der Friedhofsmauer. Sein Grab ist nicht gekennzeichnet. Bruder Lutz will es kürzlich auf dem Friedhof von Bardikow an untrüglichen Zeichen erkannt haben. – In Magdeburg verwildert das Grab von Auguste Menzel, seiner Frau, Schnäuzchen-Oma, bei der Nelly gelernt hat, was Selbstverleugnung und Güte ist. Für sie hat eine einfache Grippe genügt. Charlotte Jordan schnitt sich von dem dünnen Haarzopf, der der eingeschrumpften Toten auf der rechten Schulter lag, eine graue Strähne ab und bewahrte sie weiß Gott wo.
    Heinersdorf-Opa, Gottlieb Jordan, hatte als einziger ein Ziel, das ihn am Leben hielt: Er wollte achtzig werden. Dies gelang ihm, wenn auch unter widrigen äußerenUmständen, in einer Kammer in einem Dorf der Altmark. Dann sagte er: Nun soll es genug sein, und starb. Über den heutigen Zustand seines Grabes ist nichts bekannt. Es gibt ein Farbfoto, von Tante Trudchen, seiner Tochter, angefertigt, da ist Heinersdorf-Opas Grab mit Blumen geschmückt und von weißen Kieswegen umgeben. Auf dem Grabstein steht der Spruch, den er sich ausgesucht hatte: Mein ist die Rache, spricht der Herr.
    Als einziger Gegenstand, der an die Generation der Großeltern erinnert, ist eine von Schnäuzchen-Oma aus guter Wolle gehäkelte Schlafdecke im Familienbesitz geblieben. Manchmal denkt ihr – Lutz und du – an die beiden Geschichten, die Schnäuzchen-Opa seinen Enkelkindern zu erzählen pflegte: die Geschichte von der Schlange und die vom Bären. Manchmal erinnert dich der Geschmack von Grießbrei an den Flammeri mit Himbeersaft, den Nelly bei Heinersdorf-Oma im Sommer am Küchentisch aß. Manchmal sagt einer: Daß er so groß ist, das hat Lutz von seinem Großvater. Manchmal – für kurze Zeit nur noch – entsteht das Bild von Auguste Menzel in einem ihrer Nachkommen.
    Die Alten damals, die wußten, wie bald sie vergangen und verweht sein würden, verhielten sich kindisch oder still. Ihre Söhne und Töchter fühlten sich als die eigentlich Betrogenen und die eigentlichen Verlierer, und daraus leiteten sie das Recht her, zu jedermann ungerecht zu sein, besonders aber zu den Alten, die ihr Leben gelebt, und zu den Jungen, die es noch vor sich hatten. Sie aber, sie hatten sich das Leben sauer verdienen müssen, aus dem man sie nun vertrieb. Tante Liesbeth, der man theatralische Ausbrüche zutraun kann, rief es aus,indem sie die Hände hochwarf: Mein Leben ist zerstört! Onkel Alfons Radde, ihr Mann, litt weniger, denn die Voraussetzung seines Daseins war ihm nicht entzogen: Er diente weiter Otto Bohnsack, und sei es ohne Lohn. Er wies seine Frau zurecht. Niemand verstünde sie! klagte die Tante. Tante Lucie bedeutete ihr, sie, die ihren Mann doch bei sich habe, solle nicht undankbar sein. Ach du! sagte Tante Liesbeth verächtlich. Die anderen Tanten – Trudchen Fenske und Olga Dunst – hockten im Stroh der Wittenberger Schule und verfolgten stumm den Streit. Auch wir, sagten sie zueinander, haben unser alles verloren, ob es nun viel oder wenig war.
    Nelly war auf einmal mit einem scharfen Schnitt von den Älteren abgetrennt. Sie sah, für jene war Besitz und Leben ein und dasselbe. Sie begann sich der Komödie zu schämen, die sie zuerst vor anderen, am Ende vor sich selbst spielten.
    Eines Tages – ein dunkler Vormittag Mitte Februar – wird vom Schulhof her gerufen, ob hier Leute mit Namen Jordan einquartiert seien. Da weiß Nelly, daß ihre Mutter sie gefunden hat, wirft sich ins Stroh und beginnt zu schluchzen.
    In der ersten Stunde ihrer Wiedervereinigung, die manche nicht anstanden ein Wunder zu nennen (bei diesen Verhältnissen!), nach den ersten

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