Kindheitsmuster
Älterwerden sprechen, und verrät damit, daß auch sie das Altern als Schädigung empfindet. Nur will sie nicht wissen, daß die Schädigung auch dann fortschreitet, wenn man sie nicht zur Kenntnis nimmt. Sie fragt, ob ihr es wirklich fertigbringt, alle Zustände auf der Welt bis zu Ende zu durchdenken. Ob nicht die besser dran sind, die sich darüber »keinen Kopf« machen: die meisten. Ob man sie nicht lassen soll.
Charlotte Jordan war so alt, wie du heute bist, als sie mit Kindern und Eltern eine Stube in der Gastwirtschaft des Ortes Grünheide bei Nauen bezog. Ihr muß vollkommen klargewesen sein: In den Monaten, die vor ihnen lagen, würde massenhaft gestorben werden. Da muß sie sich vorgenommen haben: Meine Kinder nicht. Die bring ich durch. Das tat sie, und nichts anderes.
Worum weinst du jetzt? Es ist wohl der Herbst, der kraftlose Herbst, wenn eine einzige Gedichtzeile, die du, am Fenster stehend, liest, dir die Tränen in die Augen treibt: »Ach, mutige Brüder, fort ins Exil!« – Verschleierten Blicks siehst du die gelben Pappelblätter, während die Birke sich noch hält, grün. »Es gibt weder reines Licht / noch Schatten in den Erinnerungen.« – Neruda, der Dichter, der einen Herbst, einen Winter, einen Frühling und einen Sommer lang tot ist. »Bis zu den leeren Fächern / durch die zerbrochenen Türen der Wind gekommen / und hätte des Vergessens Augen tanzen lassen.«
Aber du weinst nicht um ihn. Du weinst um alles, was einmal vergessen sein wird – nicht erst nach dir und mit dir zusammen, sondern solange du da bist und von dir selbst. Um das Schwinden der hochgespannten Erwartungen. Um den allmählichen, doch unaufhaltsamen Verlust jener Verzauberung, die Dinge und Menschen bisher gesteigert hat und die das Älterwerden ihnen entzieht. Um das Nachlassen der Spannung, die aus Übertreibung kommt und die Wahrheit, Wirklichkeit, Fülle gibt. Um das Schrumpfen der Neugier. Die Schwächung der Liebesfähigkeit. Das Nachlassen der Sehkraft. Die Erdrosselung der heftigsten Wünsche. Das Ersticken ungebändigter Hoffnung. Den Verzicht auf Verzweiflung und Auflehnung. Die Dämpfung der Freude. Die Unfähigkeit, überrascht zu werden. Um das Versagen von Geschmack und Geruch und, so unglaublich es sein mag, um den unvermeidlichen Verfall der Sehnsucht. Und letzten Endes – zögernd ins Auge gefaßt – um das Verblassen der Arbeitslust. Altweibersommer.
Einmal hast du, »in Verfolg«, wie man heute wohlsagt, in Verfolg der Erkundung gewisser Örtlichkeiten aus der Vergangenheitsperiode, von der hier die Rede ist, auch einen Abstecher nach Grünheide gemacht, Grünheide bei Nauen, wohin der Bohnsacksche Lastwagen zunächst von Wittenberge an der Elbe aus weitergelenkt wurde. Man verläßt die F 5 wenige Kilometer hinter Nauen. Die Abzweigung ist durch einen Wegweiser korrekt bezeichnet. Fahrt auf schlechtem Sandweg. Dir kam es immer unglaublicher vor, daß dir heute und hier Ortschaften erreichbar sein sollten, die »jener Zeit« angehörten: Jene frühen Plätze waren dir nicht nur in einer anderen Zeit, sondern auch in einem anderen Land zurückgeblieben. Es war dir eigentlich immer lieb gewesen – nur hast du lange nicht mehr daran gedacht –, nach dem Kriege nur durch Städte zu gehen, deren Lenin-und Stalinalleen du nicht als Adolf-Hitler- und Hermann-Göring-Straßen gekannt hast. Es hätte dir gar nichts daran gelegen, beim Spaziergang einem Lehrer zu begegnen, den Nelly jahrelang mit dem Deutschen Gruß gegrüßt hatte und zu dem du nun »Guten Tag« hättest sagen sollen. Und wenn Einheimische dir in ihren Städten, in die du alle paar Jahre als Neuling kamst, das Konsumwarenhaus zeigten und dazu sagten: Früher Wertheim, dann hattest du ein heimliches, ungerechtfertigtes Gefühl von Überlegenheit.
Grünheide ist ein verwahrloster Ort. Schon die Fassaden des Gasthofs »Zur Grünen Linde«, der heute fast immer geschlossen ist. Auch nur einen Apfelsaft zu bekommen war unmöglich. Die Linden vor dem Haus sind immer noch zu Kugelbäumen verschandelt, sonst hätten sie damals schon die Fenster jenes Zimmers im ersten Stock verdunkelt, in dem Nelly mit ihrer Mutter,ihrem Bruder und ihren Großeltern »untergekommen« war. Merkwürdig bleibt, daß wiederum Liesbeth und Alfons Radde mit Vetter Manfred sich im gleichen Hause einquartieren ließen, weil offenbar jede der beiden Schwestern – Liesbeth und Charlotte – die andere im stillen für unfähig hielt, in diesen Zeiten ohne sie fertig
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