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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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zu werden. Was sie sich wiederum bei Gelegenheit vorwerfen konnten.
    Das Zimmer muß geräumig gewesen sein. Der Fußboden, den Nelly sehr oft zu wischen hatte – arm kann man sein, sagte Charlotte, aber deshalb muß man noch lange nicht im Dreck umkommen –, der Fußboden bestand aus rohen Dielen, die das Wasser aufsaugten und an den Rändern splitterten. Ringsum an den Wänden waren die fünf Betten aufgestellt. In der Mitte stand der große rohe Holztisch, an dem zu den Mahlzeiten auch Tante Liesbeth, Onkel Alfons und Vetter Manfred sich einfanden, die nebenan ihr eigenes, kleineres Zimmer hatten. In der Fensterecke hatten der Karton mit Büchsenmilch und das Butterfäßchen ihren Platz, aus dem die Verwandtschaft sich bediente und aus dem Fremde, falls sie einen Gegenwert eintauschen konnten, bedient wurden.
    Nelly kam ihre Lage eigentümlich bekannt vor. Sie wußte von alters her, daß man verzaubert werden kann, nur erstaunte es sie ein wenig – wie es zuerst jeden erstaunt –, daß dies auch ihr passieren sollte. Damals zweifelte sie im Innersten noch nicht daran, daß ihr Glück zustand und daß sie letzten Endes Glück haben werde. Ohne Gemütsbewegung nahm sie es hin, daß die Schule in Nauen, in die Charlotte ihre Kinder sofort geschickt hatte, zum Zeichen, daß wieder Ordnung inihr Leben kam: daß diese Schule gerade an dem Tag bombardiert wurde, an dem sie ihr wegen der Störungen im Zugverkehr hatten fernbleiben müssen. Nein: Unter den Trümmern einer Schule begraben zu werden – das war ihr nicht bestimmt.
    In diesem Augenblick gehen im Nachbarort lange die Feuersirenen, und kurz darauf kommen von der Hauptverkehrsstraße her die Signalhörner mehrerer Feuerwehrwagen. Daß euch – Leuten deines Alters – jede Sirene immer noch in die Glieder fährt, braucht nicht gesagt zu werden. Wieder – blasser natürlich als in den ersten Jahren nach dem Krieg – geht es im Halbschlaf die Kellertreppe hinunter, legt sich die dumpfe Kühle des Luftschutzkellers, des einstigen Bierkellers, auf die Brust. Wieder das gemeine Motorengeräusch der Bomberverbände und – Onkel Alfons Radde maß die Zeit mit der Stoppuhr: Jetzt! – die Detonationen in dem nahen Berlin, wo, nach Aussage von Charlotte, nur noch Trümmer und Leichen durcheinandergewirbelt werden konnten. (Lenka sagt, das könne sie sich am wenigsten vorstellen: Jede Nacht mit dem eigenen Tod rechnen zu müssen. Die Generationsgrenze liegt wohl auch – und vielleicht vor allem – diesseits und jenseits der Erfahrung, daß man vom Tode bedroht sein kann und doch nicht sterben, Verbrechen begehn oder verrückt werden muß.)
    Nelly, eben sechzehnjährig, soll noch knapp zwei Monate im Gefühl ihrer Unverwundbarkeit verharren dürfen. Dann wird es allerhöchste Zeit, daß ein amerikanischer Tiefflieger mit gut – aber wiederum nicht zu gut – gezielten Schüssen aus seinem Bord-MG diesem Dämmerzustand ein für allemal ein Ende macht.So lange sitzt Nelly abends vor ihrem Tagebuch an der Schmalseite des Tisches und legt – daran kann kein Zweifel sein, auch wenn das Tagebuch als Dokument verloren ist – ihren Entschluß schriftlich nieder, dem Führer auch in schweren Zeiten unverbrüchliche Treue zu bewahren. Mit Eve, einer gleichaltrigen Evakuierten aus Berlin, die schon länger in der »Grünen Linde« lebt, hockt sie nachts in der Ecke des Luftschutzkellers und trägt in ein grünes Wachstuchbüchlein Liedanfänge ein, die ihnen beiden lieb und teuer sind und die sie nicht vergessen wollen, auch wenn es vorläufig keine Gelegenheit geben sollte, sie zu singen: Kampflieder, Volkslieder, Hitler-Jugend-Lieder. Zweistimmig singen sie: »Der Mond ist aufgegangen«.
    Die westlichen Alliierten hatten ja nun den Rhein überschritten (»Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze!«). Der Führer hatte – ohne daß Nelly davon unterrichtet wurde – den später so genannten »Nero-Befehl« erlassen: Sämtliche Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen seien beim Rückzug zu zerstören. Unmittelbar betroffen hätte Nelly jene Erklärung des Führers, die den Verlust des Krieges mit dem Untergang des Volkes gleich setzte: Da die Besten gefallen seien, brauche man auf die Minderwertigen, die übrigblieben, keine Rücksicht mehr zu nehmen. Inzwischen überlegte Nelly bei sich, wie sie sich einer Werwolf-Gruppe anschließen könne, von denen man jetzt munkelte: Ein Zeichen dafür, daß sie sich der wirklichen Lage durch

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