Kindheitsmuster
des Toten: Er hatte doch eine Uhr bei sich? fragte der Oberfeldwebel, und Charlotte Jordan, als käme es darauf an, antwortete wahrheitsgemäß mit »Ja«. Nur zu verständlich, daß der Oberfeldwebel es vorzog, mit den Kriegerwitwen schriftlich zu verkehren, anstatt sich mündlich mit einer Kameradenfrau – so nannte er Charlotte mehrmals – abzugeben, deren Stellung – Kriegerwitwe oder nicht – noch ganz ungewiß war und von der man jeden Augenblick gewärtig sein mußte, daß sie sich ihrer Lage bewußt würde und ins Heulen käme.
Was er für sie tun konnte, war: den Zeugen vorführen. Der Schreibstubengefreite brachte ihn schon. Es war ein Gemeiner aus der Mannschaft, die die französischen Gefangenen bewacht hatte und von Unteroffizier Bruno Jordan befehligt worden war. Dieser Mann war der einzige, dem die Flucht geglückt war, als am frühen Morgen MG-Feuer die Dorfstraße von Liebenow entlangstrich und sie alle – Gefangene und die, die bis zu dieser Minute ihre Bewacher waren und in der nächsten selbst Gefangene sein würden – in die nächsten Dorfhäuser trieb. Der schnelle russische Vorstoß im Norden, Sie wissen ja. Ihren Mann, seinen Unteroffizier Bruno Jordan, den er einen »feinen Kerl« nannte, hatte der Soldat zuletzt gesehen, wie er in ein Haus gerannt war. Gebückt, so etwa (er führte es vor), die Arme vor dem Bauch verschränkt.
Also wie bei einem Bauchschuß, sagte Charlotte.
Und der Landser: Ungefähr so.
Seit dieser Stunde war ihr Mann für Charlotte Jordan tot, jedenfalls behauptete sie das, rief es, weinend, auch der jungen Schwiegertochter des Linden-Wirtes entgegen, die ihnen spät in der Nacht öffnete: Frau Krüger, mein Mann ist tot! – Achgottchen doch, Frau Jordan, kommen Sie erst mal rein.
Nelly sah die beiden Frauen sich umarmen, sah die ältere, ihre Mutter, ihren Kopf auf die Schulter der jüngeren legen und stand – wie nun schon üblich bei Katastrophen – stumm und zu Gefühlsbezeigungen unfähig dabei. Sie wußte: Die Mutter hielt den Vater nicht wirklich für tot. Sie aber, Nelly, sie tat es. Und das war verwerflich. Er konnte, das hatte auch der Oberfeldwebel gesagt, immer noch am Leben sein, es stand fünfzigzu fünfzig, das sollten sie sich immer vor Augen halten. Nelly hielt sich an die dunkleren fünfzig. Ein Vater, der zuerst sein Koppel weggeworfen hatte, dem dann – das hatte der fliehende Soldat auch noch gesehen – von einem der französischen Gefangenen ruck, zuck die Unteroffiziersachselstücke runtergerissen worden waren (das war Jean, der Lehrer, der hat Ihren Mann womöglich retten wollen, Frau Jordan!), der die Hände gehoben hatte und dann erst, plötzlich zusammenknickend, mit vor den Bauch gepreßten Händen in das nächste Bauernhaus gerannt war: ein solcher Vater mußte tot sein. In einer Schicht, in die kein Gedanke reicht, wohl aber der Selbstverdacht, war Nelly sich darüber klar, daß er tot sein mußte und warum. Sie schlief fest und lange. Die Mutter durchweinte die Nacht und den nächsten Tag, sie aber, Nelly, setzte sich nachmittags mit einem Buch ans Fenster, löffelte süße Büchsenmilch und las. Sie war sich selbst zuwider, aber sie war ganz ruhig, wie man ruhig ist, wenn man das Ende der Untaten erreicht hat und sich nun nicht mehr steigern kann. Sie erfuhr, daß es eine Sünde ist, Zuschauer zu sein, und wie süß die Sünde sein kann. Sie vergaß die Lektion niemals, und auch nicht die Verführung.
Erst gut ein Jahr später, als sie an einem anderen Ort und wie durch ein Wunder die erste Karte des Kriegsgefangenen Bruno Jordan aus einem Waldlager bei Minsk erreicht, bricht sie in ein nicht zu stillendes Schluchzen aus und erkennt daran, daß sie und wie stark sie getrauert hat. Und daß es möglich sein müßte, sich zu verzeihen.
Jean, der Lehrer, war es übrigens in der Tat, der Bruno Jordan die Achselstücke herunterriß, als nachdem Feuerüberfall vom Dorfende her die ersten russischen Kommandos zu hören waren. Unteroffizier, weg! soll er gerufen haben, und später, im Keller des Hauses, in das sie gebückt, aber nicht getroffen, gelaufen waren, hat Jean, der Lehrer aus einem kleinen Dorf bei Paris, sich vor den Deutschen, den ehemaligen Unteroffizier, gestellt, der die Wachabteilung der Kriegsgefangenen geführt hatte und dafür auf der Stelle von einem sowjetischen Kommando erschossen werden sollte. Nicht! hat Jean gesagt, der etwas Deutsch, aber kein Russisch konnte. Guter Mann! hat er gesagt. Der Russe verstand
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