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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Verzweiflungstaten zu entziehen wünschte.
    Um diese Zeit nahm Charlotte Jordan ihre Tochter Nelly als Schutz und Begleitung auf jene nicht ganz ungefährlicheFahrt mit, die der Suche nach Bruno Jordan, dem Gatten und Vater, galt.
    Der Zwang, täglich einige Seiten hervorzubringen, kann die Tage überschatten und ihr Leben abwürgen. Einen vernünftigen Grund gibt es nicht für das Gefühl andauernder Überanstrengung. An einem Morgen nach einer schlechten Nacht träumtest du von der Gefährlichkeit deines Berufs. Eine Gruppe grau gekleideter, ganz gleichförmig auftretender Männer, deren Sprecher – gesichtslos wie sie alle – sich von den anderen nur durch ein schmales scharfes Lippenbärtchen unterschied, verschaffte sich Zutritt zu deinem Haus. Sie kamen mit einem Auftrag von einer nicht näher bezeichneten Instanz: Sie wollten dich überreden, einen Text anzufertigen, der ihre »allgemeine Meinung« von den »Dingen des Lebens« mit deinen Worten ausdrücken sollte. Deiner Fassungslosigkeit glaubten sie mit dem Versprechen begegnen zu können, daß sie dieses Schriftstück an alle Haushalte verschicken würden. Besseres, sagte der Mann mit dem Bärtchen ernsthaft, aber hoffärtig, könnte einer wie dir doch nicht passieren. Oder solle er dir durch Vorlage des Telefonbuches beweisen, wie viele Leser dir im Falle einer Weigerung entgingen?
    Die Klarheit und Ruhe nach dem Erwachen (sogar Heiterkeit über die Schläue des Traummechanismus) steigerten sich, als du einsahst, daß du vorerst nicht weiterarbeiten konntest. Das Blatt blieb eingespannt, neun Tage lang hat keiner auf der Maschine geschrieben, ein seltener Vorfall. Die Erleichterung an jenem ersten Tag des selbstverliehenen Urlaubs war ein Gradmesser für den Druck, der vorher geherrscht hatte.
    Du gehst umher. Zwischen vier und halb fünf stellstdu dich an die Kreuzung der Hauptstraße, wenn die großen Werke Arbeitsschluß haben, und starrst den Leuten, die zu den Bussen rennen, in die erschöpften Gesichter. Beneidest sie, glaubst dich beneidet. Gehst langsam nach Hause und siehst – seit wie langer Zeit – das Licht in der Straße, Herbstlicht, durchsonnt, schnell abfallend in Dämmerung. An der Haltestelle hilft ein sehr junger Mann seiner sehr jungen Frau, die ein Kind erwartet, sorgsam aus dem Bus, und sie lächelt, ein wenig gerührt, ein wenig verlegen. Ein Mädchen hat sich mit seiner weiten Hose in der Fahrradkette verfangen, und ein paar halbwüchsige Jungen mühen sich lange, sie zu befreien. Die Freude über die wiedererlangte Fähigkeit, zu sehen, mischt sich mit der Bedrückung über die Unmoral dieses Berufes: Daß man nicht leben kann, während man Leben beschreibt. Daß man Leben nicht beschreiben kann, ohne zu leben.
    Der Widerspruch erklärt hinreichend die Überanstrengung.
    Wieviel und was von dem, was du jetzt erlebst, wird einst – in zwanzig Jahren – des Erinnerns wert sein? Welches Bild von heute wird sich eingeprägt haben, unauslöschlich wie die Anordnung jener Wehrmachtsbaracken unter märkischen Kiefern, an der Nelly erfuhr, wie die Bedrohung durch das Allergewöhnlichste einem den Atem abschneiden kann?
    Stalag heißt Stammlager. Der Name des Oberfeldwebels, von dem Charlotte Jordan Aufschluß über das Schicksal ihres Mannes erwarten konnte, war ihr bekannt. Sie fragten nach ihm und fanden ihn schnell. Beklemmend schon die überhastete Freundlichkeit, die jeder entwickelte – vom Hauptmann an abwärts –, demCharlotte, um den Zweck ihres Kommens anzudeuten, ihren Namen nannte. Eilfertig und überaus zuvorkommend reichte man sie von Hand zu Hand, von einer Unzuständigkeit zur nächsten, bis sie auf zwei Holzstühlen in einer Schreibstube saßen und der Gefreite, ein grauhaariger Mann, der stark hinkte, eilfertig und zuvorkommend davongelaufen war, den Spieß zu holen. Was hatten sie denn an sich, daß man vor ihnen weglief?
    Kaum ein Raum, den du heute betreten würdest, könnte jenen Grad von Beklemmung auslösen wie jene nüchterne Kommißstube, in der Nelly und ihre Mutter minutenlang schweigend saßen, bis Charlotte, die ihre bösen Ahnungen niemals hat für sich behalten können, aussprechen mußte, was auch Nelly dachte: Dein Vater ist tot.
    Das glaubte, es war nur zu deutlich, auch der Oberfeldwebel, ein korpulenter jovialer Mensch. Doch hatte er – was den Umständen entsprechend auch kaum zu erwarten war – keine amtliche Gefallenenmeldung vorliegen, geschweige denn Erkennungsmarke, Soldbuch und die Uhr

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