Kindheitsmuster
aus dem ganzen deutschen Wortschatz ausgerechnet das Wörtchen »gut« und ließ die Maschinenpistole sinken. Oder er verstand es, im Gesicht des Franzosen zu lesen.
Eine merkwürdige Verkettung von Umständen hat Bruno Jordan das Leben gerettet, darunter an erster Stelle die Tatsache, daß er die Leiden eines Kriegsgefangenen als junger Mensch erfahren und daß diese Erfahrung ihn unfähig gemacht hatte, Gefangene zu schinden.
Bliebe, der Vollständigkeit halber, zu erzählen, wie Bruno Jordan – vielleicht nur dieses eine Mal in seinem Leben – die Gelegenheit bekam, etwas wie Tragik zu empfinden. Er selbst würde es nie so nennen, dieses Wort kommt in seinem Sprachschatz nicht vor. Er sagte: Das muß man sich so vorstellen: Du wirst als Gefangener auf einem Lastwagen an deinem Haus vorbeigefahren. Du verrenkst dir den Hals nach deiner Familie, siehst aber nichts von ihr und weißt die nächsten zwei Jahre und sieben Monate nicht, wo sie ist. Ob sie überhaupt lebt. Dann liegst du als Gefangener in der Fabrik,in der du selber vorher Gefangene bewacht hast. Das muß man sich alles mal vorstellen.
Zuletzt, vor ihrem Abtransport in Richtung Osten, lagen die Gefangenen in den Baracken von I. G. Farben, in denen vorher die Wolhyniendeutschen gewohnt hatten. Fahren wir doch mal, sagte Lutz an jenem Sonntagvormittag 1971, in Richtung I. G. Farben. Die Konkordienkirche hattet ihr Lenka gezeigt, auch das Krankenhaus, das Nelly groß, weiß und bedrohlich erschienen war und das in Wirklichkeit ein unscheinbares, graues, noch immer von Einschußlöchern gesprenkeltes Gebäude ist.
I. G. Farben hieß: die ehemalige Friedeberger Chaussee hoch, in Richtung Alter Friedhof, in Richtung Landesirrenanstalt. In ein paar Sätzen, ohne zu viele Einzelheiten, erzähltest du die Geschichte der verrückten Tante Jette. Es zeigte sich, daß Lutz nicht wußte, auf welche Art und Weise man sie zu Tode gebracht hatte. Was war denn Tante Jette für ihn gewesen? Ein Gerücht, ein zweideutiges Gerücht unter den Erwachsenen. Nun wurde sie, dreißig Jahre später, für euch alle zu einer unglücklichen Person, einem Spruch verfallen, dem sie sich nicht hatte entziehen können.
Ganz schön irre, das Ganze, sagte Lenka. Oder findet ihr nicht?
15
Was machen wir mit dem, was sich uns eingeprägt hat?
Das ist keine Frage, sondern ein Ausruf, ein Hilferuf womöglich. Wozu wir Hilfe brauchen, das unterscheidet uns mehr als manches andere.
Vor wenigen Tagen – du hattest in einer Schweizer Stadt das 11. Kapitel vorgelesen – kam ein Mann zu dir, ein Deutscher: Ich wollte Ihnen bloß sagen, ich gehöre Ihrer Generation an, und ich kann mit dem Schuldgefühl von damals her nicht fertig werden. Er fand den Mantelärmel nicht, er hatte Mühe, sein Gesicht zu beherrschen – ein kräftiger, nicht weichlicher Mann –, und seine junge Begleiterin, eine Ausländerin, sah ihn mit einem Ausdruck an, in dem Mitleid und Erschrecken gemischt waren. Wenige Tage später erhob sich einer, an seinem Akzent kenntlich als Süddeutscher, auch gleichaltrig, und stellte öffentlich die Frage, ob die Literaten nicht endlich aufhören sollten mit der Pflichtübung Auschwitz, um statt dessen der Jugend die feineren Methoden und Gefahren des Faschismus näherzubringen. Ihm widersprach heftig ein fast weißhaariger Mann mit einem noch nicht alten Gesicht: auch er ein Generationsgenosse.
Später, unter vier Augen, sagte er, er habe 1936 als Siebenjähriger mit seinen jüdischen Eltern Deutschland verlassen. Er betrieb ein Geschäft in der mittelgroßen Schweizer Stadt, auf deren Boden der Zufall euch zusammenführte. Er habe, sagte er, deutschen Boden nicht mehr betreten wollen. Einmal, durch Freunde angeregt, sei er dann doch mit dem Zug durch Westdeutschlandnach den Niederlanden gefahren. Schon wie der Zugkellner vom Gang her das Wort »Bier!« ausgerufen hätte, habe ihn sehr gestört: der Ton, er könne es nicht erklären. In Köln, seiner Heimatstadt, sei er ausgestiegen und durch die Straßen gelaufen. Er habe immer darauf gewartet, daß er etwas empfinden werde, einen Schmerz, vielleicht einen Verlust. Er habe nichts empfunden. Er habe es ängstlich vermieden, Menschen eines gewissen Alters die Hand zu geben. Er habe ja nicht wissen können, was sie vielleicht mit diesen Händen angestellt hatten. Nun sei sein Entschluß endgültig: Freiwillig betrete er deutschen Boden nicht mehr. Übrigens teile er diesen Entschluß zum erstenmal einer Deutschen mit.
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