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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Menschen wie er, sagst du, seien in den Jahren nach dem Krieg für Menschen wie dich so wichtig gewesen wie das tägliche Brot. Ich weiß, sagt er. Ich weiß. Ihr gebt euch die Hand: Auf Nimmerwiedersehen. Du holst ihn in der Tür ein: Dort, wo du lebst, hätte niemand die Erwähnung von Auschwitz öffentlich als »Pflichtübung« bezeichnen können. Hoffentlich, sagt er. Hoffentlich. Wenigstens nicht öffentlich.
    Daß sie eingekreist waren, war offensichtlich, aber Nelly sah es durchaus nicht. Sie hatte ihre Gründe, sich an die Wehrmachtsberichte zu halten und an den Satz des Führers: Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch, und Europa wird niemals bolschewistisch werden. – In deiner gewiß trügenden Erinnerung kam dieser Satz am gleichen Sonntag aus dem Radio, an dem dann die Jordansche Familie unter ihrem Mittagstisch in Deckung ging, weil nahebei Bomben detonierten, die nun schon – »schamlos«, nannte Charlotte Jordandas – am hellerlichten Tage über ihre Köpfe hin nach Berlin transportiert wurden.
    Noch heute gelingt es dir nicht, Namen von Militärs und Schlachtenlenkern zu behalten und dich in ihre Pläne hineinzudenken – Zeichen für einen vielleicht tadelnswerten Mangel an Interesse, wenn man in Betracht zieht, daß unsere eigenen Lebenswege damals unsichtbar auf den Generalstabskarten der Heerführer mit eingezeichnet waren und daß jede geringfügige Abweichung von der als »Fluchtschneisen« gekennzeichneten Straßenführung (welche die Flüchtenden selbstverständlich nicht kannten) den sicheren Tod bedeuten konnte. Die 12. Armee unter General Wenck, Hitlers letztes Aufgebot, hat ihren Befehl, die Reichshauptstadt zu entsetzen, nicht ausführen können. Kein Anzeichen dafür, daß dieser Name Nellys Ohr damals erreichte, sowenig wie die Namen Heinrici, Tippelskirch – einander ablösende Kommandeure der Heeresgruppe Weichsel im Norden Berlins, die mit ihren Entschlüssen direkt in Nellys Leben eingriffen: Der eine, indem er versuchte, die bei Prenzlau durchgebrochenen sowjetischen Divisionen noch einmal aufzuhalten, der andere, indem er die Truppe und »flüchtende Bevölkerungsteile« auf die »geschlossene Frontlinie« Bad Doberan – Parchim – Wittenberge bis zum 2. Mai zurückzuführen suchte.
    Bei Parchim also und nicht bei Neustadt-Glewe (wie du lange Zeit dachtest, nach der Karte, Autoatlas von 1959, Blatt 5) muß jener wüste letzte Übergang über einen Fluß stattgefunden haben – die Elde –, der mehr als alles vorher den Namen »Flucht« verdiente. Es waren die Wochen, da man von Brücken zu gewärtigen hatte, daß sie mit allem, was auf ihnen war, in die Luftflogen, damit sie dem Feind nicht in die Hände fielen. Und die Parchimer Brücke stand in Gefahr, stündlich von den Russen besetzt zu werden, wonach nicht nur den in voller Auflösung begriffenen Wehrmachtseinheiten, sondern auch den flüchtenden Bevölkerungsteilen der Fluchtweg zur Elbe abgeschnitten gewesen wäre. Folks beide Stuten – die braune Rosa und die fast schwarze Minka mit der weißen Blesse –, die kurz vor dem hastigen Aufbruch vom Gut Herminenaue gefohlt hatten und deren Fohlen gegen den Widerstand des Polen Tadeusz, genannt Tadde, der die Pferde pflegte, erschossen werden mußten, zeigten bald nach der Peitschenjagd durch das sumpfige Vorgelände der Brücke (dem gräßlichen Gebrüll der Kutscher, das die Pferde zwang, sich in die Sielen zu legen, so daß die Adernstränge am Hals armdick hervortraten) Zeichen beginnender Erblindung. Daran erinnerst nicht du dich, sondern Bruder Lutz, denn er lernte damals mit Pferden umgehen und entdeckte, daß er »was für sie übrig hatte«. Also hat es ihm leid getan, daß die schönen Pferde erblinden sollten, und so hat er sich diese Einzelheit gemerkt.
    Datenvergleich. Der zweite Aufbruch der Familie Jordan – das heißt: die Flucht von Grünheide aus – erfolgte nach Lutzens Meinung am Abend des 20. April, also an Führers Geburtstag. Das wäre ein ironischer Schnörkel, aber nachdem Lutz von dir erfahren hat, daß die Amerikaner Schwerin und Wismar erst am 2. Mai besetzten, schloß er nicht aus, daß sie sich ein, zwei Tage nach dem 20. April auf den Weg gemacht haben konnten: in jedem Fall aber vor dem 25., dem Tag, an dem sich die Spitzenverbände der Generäle Shukow und Konjewin Ketzin bei Nauen treffen, dabei auch der Ort Grünheide – dessen nicht geflüchteten Bewohnern es übel ergeht – von sowjetischen Kampfverbänden besetzt wird,

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