Kindheitsmuster
der Ring um die Reichshauptstadt geschlossen ist.
Ihr redet über die zweite Flucht, während ihr – an jenem heißen Julisonntag des Jahres 71, an den du dich nun, zu Jahresende 1974, schon mit Hilfe von Aufzeichnungen erinnern mußt – fälschlicherweise ein Stück Straße, die hinter der Konkordienkirche in die Hauptstraße mündet, nach Nordosten fahrt (Straße, die neu zu sein scheint, ihr trefft polnische Armisten beim Straßenbau, lebhafte junge Gesichter, nackte braune Oberkörper): Ihr findet euch an der Rückseite des ehemaligen Zweigbetriebes von I. G. Farben, heute ein Kunstfaserwerk, das sich sehr vergrößert hat. Ihr vergleicht eure Erinnerungen, bittet dann H., zu wenden: Das ist die Straße nicht, die ihr gemeint habt. Richtig findet ihr dann den Einstieg in die ehemalige Friedeberger Chaussee, die in einem steileren Winkel nach Nordosten führt, als ihr angenommen hattet, hohlwegartig zuerst – sie schneidet ja den Südzug der Endmoräne –, sodann mit freiem Ausblick nach links und rechts, nachdem man die Hochfläche erreicht hat. Schiefgewachsene Kirschbäume zu beiden Seiten. (Vor Friedeberg, das keiner von euch je gesehen hat, lagen die Dörfer Stolzenberg und Altenfließ, ebenfalls unbekannt, und liegen heute Różanki und Przyłęk – Namen, die du von der Karte abbuchstabierst, ohne eine Vorstellung mit ihnen zu verbinden.) Jetzt, sagtest du: jetzt seht ihr links das ehemalige Gästehaus von I. G. Farben, rechts die roten Werkgebäude. Langsam bitte. Ja: Hier links der Alte Friedhof, und jetzt gleich anschließend der Park, in dem,ihr seht es durch die Bäume, die alten Häuser der ehemaligen Landesirrenanstalt liegen.
Die Proklamation des Führers, in der er den sowjetischen Truppen prophezeite, vor den Mauern der deutschen Hauptstadt werde ihnen »das alte Schicksal Asiens« bereitet und »der bolschewistische Ansturm in einem Blutbad erstickt« werden, hat die Jordans nicht mehr erreicht. Am gleichen Abend hatten sie einen Handwagen mit ein paar Koffern und Bettensäcken beladen und sich zu fünft – Nelly, ihre Mutter, ihr Bruder, ihre Großeltern – wieder auf den Weg gemacht, diesmal zu Fuß. Tante Liesbeth und Onkel Alfons Radde mit Vetter Manfred folgten mit eigenem Handwagen. Onkel Alfons Raddes Lastwagen stand nicht mehr zur Verfügung, eines Abends war er ohne ihn nach Hause gekommen: Straßensperren, gegen sowjetische Panzerspitzen errichtet, hatten auch sein Fahrzeug unwiderruflich aufgehalten. Wahnsinn! sagte er aufgebracht, wie soll ich bloß Bohnsacken das plausibel machen? Jedenfalls waren Raddes bei ihrer zweiten Flucht selbst auf einen Handwagen angewiesen; Einheimische, die nicht weggehen wollten, gaben ihn gegen Butter aus Charlotte Jordans Fäßchen.
Gegen Abend gingen sie los. Bruder Lutz hat, wie er überzeugend mitteilt, an den Sieg der deutschen Waffen nicht mehr geglaubt. Der Sinn für Tatsachen kann auch bei einem Zwölfjährigen schon ausgeprägt sein. Du natürlich – das sagte er zu seiner Schwester – hast noch stärkeren Tabak gebraucht. Du denkst nach, versuchst, dich zu erinnern. Wenn Nelly irgendwann in der Gefahr schwebte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, dann in jener Nacht. Verzweiflung wäre der Ausdrucknicht, verzweifeln zu können bedeutet, man hängt mit der Ursache der Verzweiflung zusammen. Nelly hing mit nichts mehr zusammen. Wo sie jetzt ging – es war dunkel, im Osten und Süden, von Nauen her, flackerte der Himmel rot, nur zwei Himmelsrichtungen blieben ihnen offen, was man so offen nennt –, wo sie ging, stolperte, steckenblieb, war der äußerste Rand der Wirklichkeit. Der Umkreis dessen, was sie noch denken durfte, war auf einen Punkt zusammengeschrumpft: durchhalten. Erlosch der Punkt, das war ihrem Körper stärker bewußt als ihrem Gehirn, stürzte sie über den Rand. Da alle äußere Befehlsgewalt zusammengebrochen war, mußte sie um so genauer der inneren Befehlsquelle gehorchen, die sie, indem sie ihr weiter verrückte Signale zukommen ließ, vielleicht davor bewahrte, auf der Stelle verrückt zu werden.
Du mußtest die Feststellung des Bruders auf sich beruhen lassen.
Die einzigen deutschen Namen, die man in der ehemals deutschen Stadt L. findet, sind die Namen der Toten. Lenka ist nicht dafür, in das Dickicht einzudringen, als das der Alte Friedhof sich heute darstellt. Was soll das, sagt sie. Aber es gibt ja Trampelpfade, wenn die auch in Gefahr sind, von Brennesseln und anderem Unkraut überwuchert zu
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