Kindheitsmuster
werden. Auf Friedhöfen wächst alles üppig, sagt Lutz. Und ihr versucht Lenka weiszumachen, daß man sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen dürfte, einen Friedhof anzusehen, auf dem seit sechsundzwanzig Jahren kein Mensch beerdigt wurde. Darauf, sagt sie, sei sie nicht die Spur neugierig.
Ihr wißt schon, was sie befürchtet: Es könnte euch doch mißfallen (richtiger: verletzen), daß der Friedhofnicht nur verwahrlost – was selbstverständlich –, sondern dazu auch zerstört ist. Ihr verliert kein Wort darüber, aber welche Worte bilden sich in euerm Innern? Du beobachtest dich scharf und findest einen Anflug von Bestürzung, auch Trauer, dem du doch nachgehen willst.
Alle die Grabsteine, auf denen »Ruhe in Frieden« oder in der Sprache der Lutherbibel »Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei. Aber die Liebe ist die größte von ihnen« gestanden hat, in Sandstein gehauen oder in Marmor gemeißelt und mit Blattgold ausgelegt: sie alle, fast alle sind umgelegt. Abgeschlagen die Schwerter der Sandsteinengel vor den Familiengrüften, ihre Flügel, ihre Nasen. Die Grabhügel dem Erdboden gleichgemacht, zugewachsen. Menschen, deren Vorfahren nicht auf diesem Friedhof liegen, benutzen die Pfade, die die Wildnis durchziehen, als Abkürzungswege zu ihrer Arbeitsstelle. Ihr trefft niemanden. Es ist Sonntag vormittag.
Die Grabstätte deiner einzigen Verwandten, die auf diesem Friedhof liegt, deiner Urgroßmutter, einer Caroline Meyer, würdest du niemals wiederfinden. Das Grab hat Nelly nur ein- oder zweimal zusammen mit ihrer Großmutter väterlicherseits, Heinersdorf-Oma, besucht. Schon damals war es, erinnerst du dich, über und über mit Efeu bewachsen, und auf dem einfachen Grabstein hatte fast unleserlich der Spruch gestanden: »Und wenn es köstlich gewesen ist, ist es Mühe und Arbeit gewesen.« Heinersdorf-Oma hatte jedesmal halblaut diesen Spruch verlesen und dazu geseufzt: Das merk dir gut, mein Tochter. Es ist wahr.
Caroline Meyer, denkst du, wird sich in ihrer Ruhenicht haben stören lassen, falls auch ihr Stein umgekippt wurde und zu ihren Häupten liegt. Zum Glück ist keine Gefahr, daß die Toten auferstehen. Du dachtest, daß du dann nicht das Amt haben möchtest, ihnen zu erklären, warum an den Toten eines Volkes gerächt wird, was die Lebenden einem anderen Volk angetan haben: Daß sie sie in Gaskammern getrieben und in Öfen verheizt und gezwungen haben, sich zu Tausenden vor selbstgegrabenen Massengräbern hinzuknien, so daß das Blut, wenn endlich zugeschaufelt wurde, aus der Erde quoll und der Boden, unter dem auch Halbtote lagen, sich stellenweise zu bewegen begann.
Jetzt sahst du den Grund für Bestürzung und Trauer: Sie galt nicht diesen Toten, die deutsche Namen getragen hatten, sondern jenen Lebenden, Überlebenden, die hergehen mußten, die Steine zu schleifen, die Gräber niederzutrampeln, weil ein Haß wie der, der in ihnen entfacht worden war, nicht einzugrenzen, nicht vor Gräbern anzuhalten ist. – Selten ist dir so wie in der halben Stunde auf dem Alten deutschen Friedhof in L., heute G., die vollständige Umkehr deiner Gefühle bewußt geworden, die hervorzubringen eine schwere jahrelange Anstrengung gewesen sein muß (durch die wir so beansprucht waren, daß die Kraft nicht mehr dazu ausreichte, zurückzublicken): Gefühle, die sich jetzt frei und ungezwungen auf der Seite der einstmals »anderen« bewegen und um ihretwillen bestürzt sind, wenn sie sich Gewalt antun müssen.
Lenka, das sahst du an ihrem Gesicht, brauchte keine Nachhilfe, um zu verstehen.
Du warst es wohl, die das opulente, übrigens unversehrte Grabmal von Bäckermeister Otto Wernicke entdeckte.Ob Lutz sich erinnerte, wie ihr Bäcker in der Soldiner Straße hieß? Hieß er nicht Wernicke? sagte Lutz. Beiden fiel euch ein, daß er wirklich in den letzten Jahren vor Kriegsende noch gestorben war, die Zahl 1943 stand auf dem Grabstein. Mensch, Bäcker Wernicke! Er ließ sich ja selten im Laden sehen. Seine Frau hatte kastanienbraun gefärbtes Haar. Nun denken wir noch mal an die beiden vor diesem Grabstein. Brot haben wir ja nicht bei ihnen gekauft, nur Kuchen. Brot hat ja Bruno Jordan selber »geführt«.
Ob Nelly in jenen Jahren geträumt hat, weißt du nicht, geschweige denn, was. (Lenka berichtet, sie hat in der Nacht in dem polnischen Hotel geträumt, sie habe sich, bekleidet mit ihren verwaschenen Jeans und ihrem ausgeblichenen Hemd, in eine vornehme Hofgesellschaft eingeschmuggelt, habe unbekümmert
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