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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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zu werden. Chronische Bindehautentzündung. Chronische Müdigkeit. Chronischer Hang zur Trauer am Abend. Chronischer Arbeitszwang. (Lebensfülle als Arbeitsfülle: Lenka zuckt verständnislos die Achseln.)
    Chronische Abhängigkeit von der flimmernden Scheibe. Drei Männergesichter, nebeneinandergestellt, ohne besondere Kennzeichen, Griechen. Folterknechte des gestürzten Regimes. Sie reden. Was sie sagen, ist neu: Man hat sie zu Folterern gemacht, indem man sie folterte. An ihren Leibern hat man die Methoden ausprobiert, die sie an anderen anwenden sollten. Wenn sie, fast wahnsinnig vor Schmerzen, nur noch wünschen konnten, das Gewehr, das an der Wand hing, in den Bauch des kleinen Unteroffiziers zu stoßen, der sie schlug: dann wußten sie selbst, daß sie fertig waren, reif. Nur das Gesicht des einen, der die Schmerzen nicht ertrug, »schlappmachte«, aus der Armee ausgestoßen wurde, zeigt Spuren von Unglück. Die Frau eines der Männer, die die Mißhandlungen befahlen, sagt (sie steht da in ihrer Küchenschürze unter der Haustür, hinter sich den halbdunklen Flur, den Kücheneingang, den Herd): So viel weiß ich: Er ist ein guter Mann. Alles ist Lüge, was über ihn in der Zeitung steht.
    Chronische Blindheit. Und daß die Frage nicht heißen kann: Wie werden sie mit ihrem Gewissen fertig?, sondern: Wie müssen die Verhältnisse beschaffen sein, die massenhaft Gewissensverlust zur Folge haben?
    In diesen Tagen – Ende Januar 75 – jährt sich zum dreißigstenmal der Befreiungstag des Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen. Nelly, die sichnach geglücktem Elde-Übergang bei Parchim höchstwahrscheinlich auf der F 191 in Richtung Neustadt-Glewe bewegt, da der Elbübergang bei Boizenburg ja ihrer aller Ziel ist – Nelly hat Ende April 1945 den Namen Auschwitz noch nicht gehört. Am 21. April trieb die SS--Wachmannschaft 35 000 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen auf einen Marsch, der in den Geschichtsbüchern als Todesmarsch verzeichnet ist. Auf dem Wege nach Mecklenburg werden fast 10 000 Häftlinge von den Bewachern erschossen. Nellys Treck war diesem Zug voraus, der auf anderen Straßen, aber in der gleichen Richtung sich hinschleppte. Sie hat keinen der Toten gesehen, weiß nicht, ob die Einwohner der Städte und Dörfer, an deren Straßenrändern sie gelegen haben müssen, oder Flüchtlinge, die sie fanden, sie schnell beerdigt haben oder liegenließen. Sie hat dann Überlebende jenes Todesmarsches gesehen. Ihr erster Toter aber war der Landarbeiter Wilhelm Grund.
    Herr Folk sagt: Verluste können natürlich nicht ausbleiben. Grunds mußten mit ihrem langsamen Ochsenwagen immer eher auf die Straße als der übrige Treck. Neuerdings nahmen die Tiefflieger ihre Tätigkeit in den frühen Morgenstunden auf. Nelly, in der Scheune bei den Pferden, hörte die nahen MG-Salven und preßte sich an die Wand. Die Pferde, denen man nicht beigebracht hatte, ihre Angst zu beherrschen, gingen hoch. Pferdehufe, Pferdebäuche dicht vor ihren Augen. Sie schrie wahrscheinlich, wie alle. Es hieß, Pferde würden nicht ohne Not auf Menschenleiber treten, doch zweifelte sie nicht, daß derartige Regeln einem anderen Leben angehörten. Diese Pferde hier, in ihrer Not, würden nicht zögern, sie zu zerstampfen.
    Da breitete sich vom Scheunentor her eine unnatürliche Stille aus. Niemand anders als Gerhard Grund, nicht älter als Nelly, Sohn des Landarbeiters, der den Ochsenwagen fuhr, war unglaublicherweise imstande gewesen, sie zu erzeugen. Wer in sein Gesicht sah, wurde still. Dann sprach er, mit einer veränderten Stimme. Mein Vater, sagte er. Was haben sie mit meinem Vater gemacht.
    Verluste können nicht ausbleiben. Den Leichnam des Wilhelm Grund – ein Geschoß soll ihm die Brust zerrissen haben – hat Nelly nicht gesehen. Als sie zur Landstraße kam, hatte man eine Decke über ihn gebreitet. Zum erstenmal, im Tode, hat Wilhelm Grund den Betrieb seines Brotherrn zum Stocken gebracht, anstatt ihn in Gang zu halten, und die Stockung durfte nicht länger dauern als eine halbe Stunde. Die Grube, die man am Waldrand schnell für ihn aushob, war flach. Zwei polnische Arbeiter trugen ihn in einer Futterplane, so daß sein Körper fast den Boden streifte. Wenigstens einen Sarg hätte er wohl verdient gehabt, flüsterte Frau Grund. Frau Folk ließ ihre feine welke Hand auf der Schulter der Landarbeiterfrau ruhen: Was nicht geht, geht nicht. Frau Grund hatte wasserhelle, bestürzte Augen. Der Tag

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