Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
war sehr schön. Erstes Grün an den Birken, ein Himmel, den man nicht anders als »licht« nennen konnte. Eine schneidende Szene.
    Der Tod von Gerhard Grunds Vater bringt Nelly ein Gefühl bei, das sie nicht benennen kann, so wie einem eine Wunde beigebracht wird.
    Ein Traum, letzte Nacht: H. sagt dir auf den Kopf zu, du könntest einen Berg von Leichen nicht beschreiben, in seinen Einzelheiten. Ohne zu überlegen, gibst du ihmrecht. Er sagt, gerade das müsse ein Autor in diesem Jahrhundert wenigstens können. Du seist untauglich für diesen Beruf.
    Berge von Leichen hat Nelly nur auf Fotos gesehen oder in Filmen. Wenn man sie mit Benzin übergossen und verbrannte oder sie mit Bulldozern zusammenschob, verhungerte Skelette. In der Deutschen Wochenschau starb nur der Feind.
    Chronischer Hang zum schlechten Gewissen. Das Gewissen des Schreibers hat sich, so sieht es aus, nur um die Wahrheit zu bekümmern, »die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit«. Da aber die Mitteilung zum Wesen der Wahrheit gehört, produziert er, oft zweifelnd, eine vielfach gebundene Wahrheit: an sich selbst gebunden, den Mitteilenden, und den immer begrenzten Freiheitsraum, den er sich abgezwungen hat; gebunden an den, über den er aussagt, und nicht zuletzt an jene, denen die Mitteilung gilt und die man nur warnen kann: Nicht »rein« – mehrfach getrübt ist die Wahrheit, die sie erreicht, und sie selbst werden sie, durch Urteil und Vorurteil, noch einmal verunreinigen. So mag sie brauchbar sein.
    »Die Flucht« zum Beispiel – wenig beschrieben. Warum? Weil die jungen Männer, die über ihre Erlebnisse später Bücher schrieben, Soldaten waren? Oder weil dem Gegenstand etwas Heikles anhängt? Allein das Wort ... Es verschwand später. Aus Flüchtlingen wurden Umsiedler – ein Ausdruck, der zu Recht jene im Juni 1945 aus den polnischen und tschechischen Gebieten Ausgesiedelten bezeichnet, die nicht geflohen waren (unter ihnen Nellys Großeltern aus Heinersdorf). Nelly aber und ihre Verwandten näherten sich fluchtartigSchwerin (nannten sich noch Jahre nach dem Krieg »Flüchtlinge«) und glaubten zu wissen, wovor sie flohen. Bloß dem Russen nicht in die Hände fallen, sagte Schnäuzchen-Oma.
    Sie hatte in ihrem Leben keinen Russen gesehn. Woran dachte sie, wenn sie »der Russe« sagte? Woran hat Nelly gedacht? Was sah sie? Das bluttriefende Ungeheuer auf dem Buchdeckel des Bandes »Der verratene Sozialismus«? Die Filmstreifen mit den Herden von sowjetischen Gefangenen – geschorene Köpfe, ausgemergelte, stumpfe Gesichter, Lumpen, zerrissene Fußlappen, schleppender Gang –, die nicht aus dem gleichen Zeug gemacht schienen wie ihre straffen deutschen Bewacher?
    Oder sah sie gar nichts? Genügte ihrer Angstbereitschaft der Schrecken, der von dem düster-geheimnisvollen Wort »vergewaltigen« ausging? (Die Russen vergewaltigen alle deutschen Frauen: unbezweifelte Wahrheit. Ein Mädchen, das nicht imstande ist, seine Unschuld zu bewahren. Dunkles Gerangel von Körpern und, sicherlich: Schmerz und Schande, unvermeidlich danach: der Tod. Dies überlebt keine deutsche Frau. Ein Glied mehr in der Kette, die körperliche Liebe und Angst aneinanderfesselt.)
    Übrigens hat Nelly Glück. Sie hockt in keinem Keller, in keinem Wohnzimmer zwischen Stilmöbeln, kann sich nicht verkriechen, den Kopf nicht in den Sand stecken. Sie muß gehen, mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören. Muß den Soldaten sehen, der seinen nackten Oberkörper neben einem der roten mecklenburgischen Bauernhäuser an der Pumpe wäscht, muß hören, wie er den Flüchtlingen, die vorbeiziehen, mitunbekümmerter Stimme zuruft: Wißt ihr’s schon? Hitler ist tot.
    Wieder ein lichter Tag, der keine Anstalten machte, sich zu verdunkeln. Ein neuer Gedanke: Das Ende der Welt mußte nicht den eigenen Tod bedeuten. Sie lebte. Das war sicherlich unwürdig, doch auch interessant. Entschieden aber war noch lange nicht, ob sie durch Melancholie – die Trauer um ihren schlimmsten Feind – sich selbst zerstören oder ob es ihr gelingen würde, die verkümmerte Fähigkeit, Erfahrungen zutreffend zu deuten, zu entwickeln und zu überleben. Lange Zeit, jahrelang, sollte der Kampf unentschieden hin und her gehen – auch dann noch, als sie selbst ihn längst und eindeutig zu ihren Gunsten für entschieden hielt. (Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?)
    Die Straße als Lehrmeister. Einmal sah Nelly schrecklich abgemagerte Frauen in Sträflingskleidung am Straßenrand

Weitere Kostenlose Bücher