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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Veranda eingenommen wird, vermutlich gar nicht gesehen.
    Folks suchten einen Kutscher für ihren Futterwagen. In Betracht kam Onkel Alfons Radde. Selbstverständlich konnte er ein Fuhrwerk kutschieren, vorausgesetzt, die acht Personen, die seine Familie darstellten, fänden Platz. (Zum zweitenmal wurde er der Retter seiner Verwandten.)
    Die musternden Blicke wurden abschätzig.
    Bon, sagte dann Herr Folk. Ohne Gepäck.
    Das nackte Leben, dachte Nelly mit einem unverständlichen Anflug von Genugtuung.
    Unmöglich, sagten die Erwachsenen.
    Nach einer heftig und hastig geführten Verhandlung verstauten sie das leichtere Gepäck auf dem Kastenwagen, auf dem die Futtersäcke lagen, die schweren Koffer auf einem der beiden Handwagen, dessen Deichsel mit starken Stricken an der Hinterachse des großen Wagens festgebunden wurde. Das Bild, das sie abgaben, war lächerlich, doch darauf kam es nicht an. In Zeiten wie diesen ist der Sinn für Komik Luxus. Übrigens würden sie dem Folkschen Treck langsam folgen, zusammen mit dem Ochsenwagen, der ebenfalls Futtersäcke und die siebenköpfige Landarbeiterfamilie Grund beförderte.
    Den letzten beißen die Hunde, sagte Schnäuzchen-Opa. Man gebot ihm, um Gottes und Christi Willen zu schweigen.
    Herminenaue, bei Nacht betreten, bei Morgengrauen verlassen, hinterließ kaum einen Eindruck.
    Bruder Lutz fing an, Gefallen an Pferden zu zeigen.
    Nelly saß im rückwärtigen Teil des offenen Kastenwagens auf ihrem Futtersack. Dir ist, als sei das Wetter überwiegend schön gewesen – wogegen allerdings das durchweichte Gelände vor der Brücke von Parchim spricht. (Es kann sich um aufgetauten Boden gehandelt haben.) An Himmel erinnert man sich immer. Nelly sagte sich, an diese Himmel werde sie sich erinnern, blau und zart. An jenen Abend auch, in einem Dorf abseits von der Hauptstraße, als sie persönlich zum erstenmal von Tieffliegern beschossen wurde, während sie eine Schüssel mit abgewaschenem Geschirr von einem Bauernhaus über die Straße zur Scheune trug, in der sie übernachteten. Die Mutter riß sie in den nächsten Hausflur. Du erinnerst dich an den Stolz, den Nelly empfand, als sich herausstellte, daß kein Teller zerbrochen war: Sie gehörte jedenfalls nicht zu denen, die einfach alles hinschmissen, was sie gerade in der Hand hatten, bloß weil geschossen wurde. Gerade dafür machte die Mutter ihr schwere Vorhaltungen: Sie solle das nächste Mal auf Geschirr und alles pfeifen und Deckung suchen. Als ob es Nelly um das Geschirr gegangen war. (Stark widerstrebend beginnt sie zu lernen: Jeder Mensch, auch sie, ist verletzbar. Eine Lektion, die andauert.)
    Die F 5 führt über Friesack, Kyritz, Perleberg nach Nordwesten. Der Folksche Treck wird sie bei Kyritzverlassen haben, um die F 103 bis Pritzwalk zu nehmen und auf Nebenwegen (Triglitz, Lockstädt, Putlitz, Siggelkow) Parchim zu erreichen, die Brücke über die Elde, die dann Hölle und Himmelreich, Leben und Tod miteinander verband und voneinander trennte.
    Sooft du später diese Straße gefahren bist, auch im Frühling: Nie hast du den mindesten Anhaltspunkt finden können, an dem du sie erkanntest. Man lernt sehr schnell, eine Landschaft als Gelände, Strauch, Baum und Hecke als Objekte zu sehen, hinter denen man notfalls Schutz suchen kann. Vielleicht ist dir deshalb die Strecke, die Nelly mit anderen Augen ansah, später unbekannt vorgekommen. Übrigens erscheint sie, je weiter nördlich man sie verfolgt, um so ungünstiger, da die Waldstücke, die idealen Deckungsmöglichkeiten, seltener werden und von der Straße zurücktreten.
    Zu Lenka gesagt (die zu glauben scheint, damals habe man im Gegensatz zu heute »etwas erlebt«): Was sich ereignete, war ein Stillstand der inneren Zeit. Nelly hielt ihr Gesicht, ihren Körper hin, und die Leute, die sie traf, und die Ereignisse stürzten in sie hinein wie tote Vögel. Natürlich blieb ihr Zustand unbemerkt, da sie sich den Umständen angemessen verhielt und da unter Lebensgefahr kein Mensch auf das Innenleben eines anderen erpicht ist.
    Nelly ist sich selbst uninteressant geworden. Da die Verbindung mit ihr selbst abgebrochen ist, überzieht alles, was ihr begegnet, ein Glanz unheimlicher Fremdheit. Sie, unbewegter Beobachter, wirft einen undurchdringlichen Schatten auf sich, der, wie sich zeigen soll, schwerer auflösbar ist als die blassen huschenden Schatten der feindlichen Flieger über sie hinweg.
    Was lange genug andauert, erwirbt sich das Recht, »chronisch« genannt

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