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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ihre Wut ausgelassen. – Die lernen nie was dazu! Zitat Charlotte Jordan, Bruno Jordan, die als einzige aus ihrer Verwandtschaft auch nach der Teilung Deutschlands in der sowjetisch besetzten Zone, später DDR, verblieben.)
    Alte Leute! sagt Bruder Lutz. Verlang nicht zuviel von ihnen. – Ihr sitzt Kirschen essend auf einer Bank am Rande der Landstraße zwischen der polnischen Stadt G., die ihr besucht habt, und dem wenige Kilometer entfernten Geburtsdorf von Bruno Jordan. Ihr habt gesehen, dieses Dorf ist eines jener ziemlich wohlhabenden Straßendörfer, die für diese Gegend bezeichnend sind. Ganz schön eigentlich. Es ist der späte Vormittag des 11. Juli 1971, ein Sonntag, wie man weiß. Ihr habt Kirschen bei dem jungen blonden Burschen gekauft, der hinter einem Brettertisch am Straßenrand steht – Jeans, weißes offenes Hemd – und nicht nach Gewicht, sondern nach Tütenmaß berechnet, sechzehn Złoty. Erwünschter hätte kein Platz sein können. Mag es übertrieben klingen: Den Geschmack jener Kirschen hast du nicht vergessen. Das Wort »erquickend« traf auf sie zu, das man sonst nur für Wasser und Schlaf verwenden kann. Die köstlichen Früchte, aus deren Genuß diegeschwächten Helden der Sagen ungeahnte Kräfte ziehen und zauberhafte Fähigkeiten. Welche Kräfte du ersehntest, welchen Zauber du herbeiwünschtest, behieltest du für dich.
    In diesem Augenblick hatte die Fahrt sich gelohnt.
    Die Liste der Wohltaten: Lenka fing damit an. Jeder sollte seine Wohltaten nennen. Du wolltest gleich diese Kirschen an die erste Stelle setzen. Der Einfall wurde als zu augenblicksbezogen zurückgewiesen, aber es blieb dir freigestellt, Kirschen oder was immer du wolltest auf einer persönlichen Liste an jeden gewünschten Platz zu rücken. »Essen« bekam auf der allgemeinen Liste einen sehr guten Rang, ebenso »Schlafen«, »Lieben«. (Lenka beantragte, Lieben an die Spitze zu stellen, Lieben als Haltung, nicht als Tätigkeit! Und dicht dahinter: Hassen. Hassen als Wohltat? Allerdings. Das sollte sie dann auf ihre persönliche Liste setzen.) Lenka wollte unbedingt »Leben« aufnehmen. Sie stritt sich mit ihrem Onkel darüber, ob »Leben« in dem Sinn, den sie meinte, mehr sei als die Summe aller einzelnen Tätigkeiten, Gefühle, Gedanken, Zustände, die doch, fand sie, nicht immer dazu führten, daß einer lebe. Bruder Lutz sagte, das sei ihm wieder mal zu hoch.
    Er wollte »Arbeit« auf die Liste der Wohltaten setzen. Es war euch recht. Lenka protestierte heftig. Sie wollte lieber einzelne Arbeiten aufzählen: malen, singen, mit Kindern spielen, aber wo käme man da hin. Sie enthielt sich der Stimme. Dann sollte, auf Lenkas Antrag, in großen Buchstaben sehr weit vorne Musik genannt sein, und alle Jahreszeiten, außer dem November. Überhaupt Natur. Überhaupt: Regen! Und das Meer. Und Schwimmen.Und Bücher. Und ihre alten zerflederten Wachstuchlatschen. Und Theater, aber nur manche Stücke. Und Tanzen, aber nur bei manchen Bands (du blamiertest dich mit dem Urgroßmutterwort »Kapelle«). Und ihre ausgeblichene Kutte. Und ihr Bett. Und Bilder. Und, um Gottes willen, ganz an die Spitze: Freunde.
    Es uferte aus. Aber wenigstens eines noch, das Wichtigste überhaupt: Freunde. Freundlich sein. – Bitte schön.
    Lutz hatte seine Einteilungsversuche fallenlassen. Im Juni 46, da war er genauso alt wie Lenka jetzt, da ging er in dem Dorf Bardikow in Mecklenburg zur Schule und hütete nachmittags die Kühe vom Bauern Freese, da hätte »Brot« ganz oben auf seiner Liste der Wohltaten gestanden, gleich nach dem Wunsch, der Vater möge zurückkommen. Im Januar 43, als Nelly so alt war wie Lenka jetzt, hätte sie – es ist nicht sicher, aber wahrscheinlich – die Gunst der Lehrerin Julia Strauch an die erste Stelle gesetzt; und H. in Lenkas Alter, im August 1943, kannte als oberste Wohltat den Wald. Und allein sein können. Und lesen.
    Ja. Ihr kamt zwanglos auf den Fortschritt zu sprechen. Kann man solche »Liste der Wohltaten« – eine Spielerei, genaugenommen – als Maßstab für Fortschritt nehmen, wie ihr es anscheinend tun wolltet? Bruder Lutz warnte davor, den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt zu ignorieren. Euch warf er geistigen Hochmut vor. – Inwiefern? – Insofern ihr ziemlich ausgefallene Bedürfnisse für normal erklären möchtet und die normalen Bedürfnisse durchschnittlicher Menschen zu gering veranschlagt. Als ob es eine Schande wäre, ein auskömmliches Leben in einer komfortablen

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