Kindheitsmuster
hocken und sich entleeren, ihr nacktes Gesäß der Straße zugekehrt, gleichgültig, wer da vorbeikam. Sie haben keine Scham mehr, sagte Schnäuzchen-Oma und verriet ein schreckliches Wissen durch das Wort »mehr«. Nelly empfand heftig die Scham, die jene verloren hatten. Hätten nicht wenigstens die Bewacher, Männer, sich umdrehn können, fragte sie sich. Auch die schienen alle Scham verloren zu haben, jedoch nicht auf die gleiche Weise wie jene Frauen. Gab es denn mehrere Arten von Scham, von Anfang an?
Keiner verlor ein Wort über die Frauen, an denen man vorbeizog (immer vorbeizog), als hätte es sie nicht gegeben. Ihre Blicke, geübt im Wegsehen, zogen sich eilig von ihnen zurück. Was man nicht oder fast nicht gesehenhat, kann man leichter vergessen. Der Vorrat an Vergessenem wuchs.
Kurz darauf mußte Nelly mit eigenen Augen sehen, wie die polnischen Kutscher die Zügel aus der Hand legten – es war die Rede davon, daß dicht vor ihnen die Amerikaner, dicht hinter ihnen die Russen seien –, von den Kutschböcken der Wagen heruntersprangen, um zurück, das hieß für sie: vorwärts, gen Osten, in Richtung ihrer Heimat auf und davon zu gehen. Sie mußte sehen, wie Herr Folk einen Wutanfall bekam und aus alter Gewohnheit den Arm zum Schlag erhob. Wie einer der Polen ihm den Arm festhielt. Wie die Deutschen, Landarbeiterfamilien zumeist, nicht daran dachten, Herrn Folk zu Hilfe zu kommen. Bemerkenswert an diesem Vorgang war die Ruhe, in der er sich vollzog. Nelly konnte sich dem Gefühl von Richtigkeit, das im Ablauf dieser Szene lag, nicht entziehen. Daß die Polen so wenig Triumph zeigten, verwunderte Nelly erst später. Damals kam es ihr noch nicht merkwürdig vor, wenn die Sieger ihrer Freude nicht lauthals Ausdruck gaben. In ihrer eigenen Niedergeschlagenheit erschien ihr die Tatsache, daß sie überlebt hatten, noch kaum als Glück. Der Tonfall, in dem ihre Mutter vom Überleben sprach, verhieß nichts Gutes: Von einem Schlamassel in den anderen, sagte sie.
Im Gegensatz zu der anhaltenden meteorologischen Ordnung griff auf den Straßen unglaubliche Unordnung um sich: Die Deutschen, kopflos flüchtend, entledigten sich ihres Ballasts. Noch Jahre danach hat Nelly von Landschaften geträumt, die unter dicken Schichten von Papier erstickten. Von der Büromaschine bis zum Geschütz wurde an den Straßenrand geworfen, gestellt,abgelegt, was eine moderne Armee brauchte. Entblößung der Eingeweide. Niemand sah hin. Alles unser Geld, sagte Schnäuzchen-Opa, der schweigsam geworden war. – Red, was du verstehst! fuhr Alfons Radde, sein Schwiegersohn, ihn an.
Wenn es danach gegangen wäre, hätten sie alle in Schweigen verfallen müssen.
Auf die KZler stießen sie an einem hellen Mittag. Links von der Straße war lichtes Gehölz, rechts erhob sich eine flache Rasenböschung. Woher sie wußten, daß dies die Oranienburger waren, ist nicht mehr zu ermitteln. Auch sie zeigten übrigens weder Freude noch Glücksgefühle. Teils standen, hockten oder lagen sie, in einigem Abstand von der Straße, im Gehölz, teils hatten sie, Gewehre auf die Straße gerichtet, auf der Böschung Posten bezogen. Es müssen die Kräftigeren gewesen sein, die auf der Böschung standen. Sprechen konnten oder wollten sie nicht. Nelly, wenn sie sich später fragte, was in ihren Blicken gelegen hatte, fand am ehesten Gleichgültigkeit, ja Kälte, auch Aufmerksamkeit. Jedenfalls weder Haß noch Freude.
Du bist nicht in der Lage, über das Verhalten jener Männer eine andere Aussage zu machen als die, daß es Nelly erstaunte. Erstaunen aber ist ein geringfügiger Fortschritt, ein wenn auch winziger Lichtblick, gemessen an der Finsternis totaler Fremdheit (»kein Mensch wie du und ich«), die Nelly bis dahin durchdrang.
Lenka wird nicht begreifen, warum niemand, kein einziger aus dem Flüchtlingstreck, auf die fast verhungerten Gestalten zuging, ein Stück Brot in der Hand. Warum niemand ihnen auch nur ein Wort zurief. Warum sie stumm blieben und nicht anhielten. Sie hattenAngst. Nicht die Angst des schlechten Gewissens: In eigener Todesgefahr kommt schlechtes Gewissen nicht auf. Erst mußten sie sich gerettet sehen, um bereit zu sein, einen gewissen Preis für ihre Haut zu zahlen. (Nicht jeder natürlich. Es stellte sich bald heraus, daß es in allen Völkern gute und schlechte Menschen gibt. – Zitat Onkel Alfons Radde, Onkel Walter Menzel, Tante Trudchen, die Tanten Liesbeth, Lucie, Olga: An den Deutschen haben die andern schon immer
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