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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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wie Gott in Frankreich.
    Als sie sich umdrehten, lehnte in der Tür, die sicher zum Wohnzimmer führte, ein kleiner schwarzhaariger Offizier. Er mußte sie schon eine Zeitlang betrachtet haben. Charlotte, gewohnt, in die Offensive zu gehn, hielt ihren Eimer hin. Wasser, sagte sie. Der Mann schwieg. Er versteht uns nicht. Sag’s du ihm auf englisch. Nelly, in dem einwandfreien Englisch, das Studienrat Lehmann ihr beigebracht hatte: Water, please.
    Der Offizier verzog keine Miene. Er stieß sich vom Türrahmen ab, öffnete ihnen die Badezimmertür. Bitte sehr, sagte er in akzentfreiem Deutsch. Sie füllten ihre Eimer über der Badewanne, vermieden es, sich in dem fremden, vom Feind besetzten Raum umzusehen. Der Offizier trug ihnen die Eimer bis an die Gartentür. Charlotte sagte: Danke sehr. Bemühen Sie sich nicht weiter.
    Der Offizier sah Nelly an. Vielleicht erwartete er, daß auch sie sich bedankte, doch das tat sie nicht. Er fragte: Woher kommen Sie?
    Charlotte sagte es ihm. Er nickte, als seien deutsche Ortsnamen ihm geläufig. Er fuhr fort, Nelly anzusehen. Er fragte, wie alt sie sei. Die Mutter antwortete für sie. Er wiederholte, als müsse er sie ausprobieren, die Zahl Sechzehn. Schlimm, sagte er dann.
    Merkwürdig war, daß die Trauer in seinen Augen nicht neu, nicht extra ihretwegen entstanden schien. Er fragte noch, zögernd wie alles, aber immer in diesem einwandfreien Deutsch, ob sie etwas brauchten. Nelly fürchtete für die Standhaftigkeit der Mutter, aber Charlotte Jordan wußte, was sie sich schuldig war: Sie dankte. Vielleicht Medikamente? fragte er noch. Zu ihrem Glück war gerade keiner von ihnen krank, das sagte Charlotte. Er konnte sich nicht entschließen, sie gehen zu lassen. Er gab sich innerlich einen Ruck und sagte dann, in einem Tonfall, der nicht recht zu ihm paßte: Es wird auch für Sie wieder besser werden.
    Davon wollte nun Charlotte nichts hören. Unser Vaterland ist kaputt, sagte sie, wir alle mit: Das ist der Krieg. Sie sind die Sieger, wir die Verlierer. Wir haben nichts zu hoffen.
    Der kleine Offizier erwiderte leise, als schäme er sich: Hitler hat Deutschland kaputtgemacht.
    Natürlich, sagte Charlotte, das ist Ihr Standpunkt. Sie werden mir erlauben, den meinen zu behalten. Ich trete keinen mit Füßen, der sowieso am Boden liegt.
    Sie hob ihren Eimer auf. Der traurige Blick des Offiziers haftete an Nellys Gesicht. Kurz ehe sie an ihrer Feuerstelle ankamen, sagte die Mutter leise zu Nelly:Er war Jude, hast du das gemerkt? Sicher ein Emigrant aus Deutschland.
    Nelly hatte nichts gemerkt. Der amerikanische Offizier, der Jude sein und aus Deutschland stammen sollte, war ihr unheimlich. Sie holten das Wasser nie mehr in diesem Haus.
    In der ausgescheuerten Waschschüssel kochte über dem Feuer eine Erbsensuppe. Nelly mußte sehr weit zurückdenken, um sich zu erinnern, wann sie zuletzt offene Feuer in der hereinbrechenden Nacht gesehen hatte: Lagerfeuer vor Beginn des Krieges, Sonnenwendfeuer, noch früher, in der Schlucht. Das war in einem anderen Leben, dachte sie, und war merkwürdig zufrieden mit dieser deutlichen Formulierung. Bruder Lutz, zwölf Jahre alt, konnte sich nicht erinnern, daß im Dunkel Lichter brennen dürfen, sogar offene Feuer, ohne daß ein Luftschutzwart gleich: Licht aus! ruft. Er lief die Feuer ab wie ein junger Hund, er war aufgeregt, als dürfe er an einer verbotenen Unternehmung teilhaben, Charlotte schwebte in Todesängsten. Der Junge wird mir ja total meschugge.
    Wie kam der KZler an ihr Feuer? Jemand muß ihn eingeladen haben, gewiß die Mutter. Wahrscheinlich hatte sie gesehen, wie er allein zwischen den Wagen und Kochstellen herumging, manchmal stehenblieb, auf die Leute sah, zu keinem gehörte. Charlotte hatte einen Blick für Menschen, die so herumgingen. Darf ich Sie zu unserem bescheidenen Essen einladen? hat sie gesagt, als käme ein Gast in ihre gute Stube. Er hat sie angestarrt, hat dann gemerkt, daß es kein Hohn war, sondern eine ihm persönlich zugedachte Höflichkeit. Er ließ sich auf einem Baumstumpf nieder. Charlotte gabihm von ihren sorgsam gehüteten Tellern denjenigen, der noch am wenigsten angeschlagen war. Sie schöpfte ihm als erstem auf. Er aß, daß Nelly dachte, jetzt erst wisse sie, was Essen ist. Er hatte sein rundes gestreiftes Käppi abgenommen. Die Ohren standen von seinem eckigen geschorenen Schädel ab. Die Nase war ein mächtiger Knochen in dem fleischlosen Gesicht. Sich sein wirkliches Gesicht vorzustellen war

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