Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
unmöglich, besonders dann, wenn er die Augen schloß, was er aus Erschöpfung öfter tat. Dann schwankte er, im Sitzen, das hatte Nelly noch nie gesehen. Eine Nickelbrille mit scharfen Gläsern war mit einer schmutzigen Schnur hinter seinen Ohren befestigt. Wenn er die Augen hinter den dicken Brillengläsern öffnete, ahnte man sein Gesicht, sein früheres oder künftiges, das wußte man nicht. Nelly sah, daß er nicht lachen konnte. Das war der erste winzige Berührungspunkt zwischen ihnen.
    Die Mutter entschuldigte sich wegen der dünnen Suppe. Ach, gute Frau, sagte er, wir sind nicht wählerisch. Nelly hörte zum erstenmal, daß jemand ihre Mutter eine »gute Frau« nannte und in einem derart überlegenen Ton mit ihr sprach. Sie, als sei dieser Ton natürlich, sagte: Nicht wählerisch, das will ich gerne glauben. Man hat Ihnen übel mitgespielt. Falls es kein Geheimnis ist: Was hat man Ihnen denn vorgeworfen?
    Ich bin Kommunist, sagte der KZler.
    An diesem Tag sollte Nelly lauter neue Sätze hören. Was waren die Feuer, die ungestraft im Dunkeln brannten, gegen den Mann, der sich offen selbst bezichtigte, Kommunist zu sein?
    Ach so, sagte die Mutter. Aber deshalb allein kam man doch nicht ins KZ.
    Nelly mußte sich wundern, daß sich im Gesicht des Mannes doch noch etwas verändern konnte. Zwar konnte er keinen Zorn mehr zeigen, oder Verblüffung, oder auch nur Erstaunen. Ihm blieben nur die tieferen Schattierungen der Müdigkeit. Wie zu sich selbst sagte er, ohne Vorwurf, ohne besondere Betonung: Wo habt ihr bloß alle gelebt.
    Natürlich vergaß Nelly den Satz nicht, aber erst später – Jahre später – wurde er ihr zu einer Art von Motto.
    Die Nächte im Freien waren kalt. Als ihr die Kirschen aufgegessen habt, wieder im Auto sitzt, in Richtung L. zurückfahrt, schon halb entschlossen, euern Aufenthalt in dieser Stadt zu beenden, erzählt H. seiner Tochter Lenka, wie sie als Gefangene auf einer großen, sanft abfallenden Wiese in Zelten lagen – westlich der Elbe, die er dann zu Boot überqueren mußte, um flüchten zu können, Richtung Heimat –, wie ihnen das amerikanische Büchsenfleisch zuwider wurde, das sie ohne Brot essen mußten, und wie Morgen für Morgen ein Mitgefangener aus seinem höher gelegenen Zelt trat und in einem langgezogenen, heulenden Ton über das Lager rief: Deutsche Menschen, alles Scheiße!
    H. machte diesen Ton nach, den er über sechsundzwanzig Jahre im Ohr behalten hatte, und Bruder Lutz sagte überraschend: Der Mann hat nicht unrecht gehabt, das muß ihm der Neid lassen. H. erzählte weiter, wie er nach der zuerst mißglückten, beim zweiten Versuch gelungenen Elbüberquerung nach Hause gelaufen ist, in mehreren Tagesmärschen, dazwischen immer bei Bauern sich verdingend, für einen Tag Essen und Marschverpflegung. Er hatte sich eine Art Räuberzivil zusammengestoppelt, sah aus wie ein Junge. Die Militärstreifenließen ihn alle passieren. So ist er den schweren Hungerlagern entgangen.
    Lenka sah, daß immer noch neue Zufälle sich herausstellten, die eintreten oder ausbleiben mußten, um ihre Eltern später zusammenzuführen und sie selbst hervorzubringen. Sie wußte nicht: Sollte man sich nun gar nicht mehr oder sollte man sich erst recht wichtig nehmen. Im Zweifelsfall immer die Mitte, sagte ihr Onkel Lutz: Nicht zu sehr, aber auch nicht zu wenig.
    Am dritten Tag wurde das Flüchtlingslager bei Warsow aufgelöst. Nur wenige Kilometer lang konnten die Trecks auf der Chaussee bleiben, dann lenkten Militärposten sie auf Landwege, die zu entlegenen Dörfern führten. Dort sollten die Flüchtlinge sich Quartier suchen. Herr Folk, der seine Landkarte studierte, gab die Losung aus: Großmühlen. Auf Großmühlen saß Herrn Folks Regimentskamerad Gustav von Bendow, alter mecklenburgischer Adel. Die Bendows würden ihre in Not geratenen Freunde nicht im Stich lassen.
    Charlotte, die immer aufsässiger wurde, fragte zwar laut: Was gehn denn uns die Bendows an, aber sie konnte schließlich ihre Koffer und ihren Bettensack nicht vom Wagen werfen und sich mitten im Wald auf die Kreuzung zweier Sandwege stellen.
    Liesbeth und Alfons Radde fanden, man müsse Folks dankbar sein, die sie mitnahmen.
    Soviel wie in die Hand geschissen, sagte Charlotte.
    Liesbeth, ihre Schwester, warf ihr vor, daß sie von Tag zu Tag gewöhnlicher wurde. Das mochte stimmen. Als sie nämlich nach einer kurzen, aber schlechten Wegstrecke von fast zwei Kilometern – Koppeln rechts und links des Weges, der von

Weitere Kostenlose Bücher