Kindheitsmuster
Wohnungmit Kühlschrank, Waschmaschine und Auto über alles zu stellen. Als ob nicht alle Regierungen diesem Bedürfnis der Mehrzahl Rechnung zu tragen suchten – bessere Massenpsychologen als ihr, sagte Bruder Lutz. (Jehuda Bakon, vierzehnjährig in Auschwitz, hätte vielleicht die Gunst, sich nach der Arbeit im Lagergelände an den Verbrennungsöfen zu wärmen, die die Wachmannschaft der Kinderkolonne manchmal gewährte, auf der Liste der Wohltaten obenan vermerkt.)
Wie seid ihr von den Segnungen der Zivilisation auf die Deutschen gekommen?
Nicht nur sie, sagte Bruder Lutz, alle Völker seien zu unterdrücken, durch ein Terrorsystem in Schach zu halten, in Kriege zu hetzen, zu unmenschlichen Handlungen zu treiben. Er zählte Beispiele aus der Geschichte der letzten fünfzig Jahre auf. Helden gebe es in jeder Nation wenige, und es sei nicht zur menschlichen Norm zu erheben, sich heldenhaft zu betragen. Die Masse schweigt oder macht mit. Und die Nazis haben ihre größten Schweinereien – die »Euthanasie«-Aktion, die Massenvernichtung der Juden – soweit wie möglich vor ihrem eigenen Volk geheimgehalten. (Das stimmte.) Und warum, glaubten wir, hätten sie sich diese Mühe gemacht?
Ja, warum? fragtest du. Weil sie Aufstände befürchten mußten? Einen Generalstreik? Oder eine große Aktion zur Rettung der Juden, wie in Dänemark? Wenigstens einen passiven Widerstand? Allermindestens die Weigerung, in den Vernichtungslagern Dienst zu tun? (Jehuda Bakon, vierzehnjährig – er zeichnet schon –, wärmt sich an den Verbrennungsöfen, an denen dauerhaft das Schild der deutschen Firma befestigt ist, diesie – womöglich mit Garantie – herstellte: I. Topf, Erfurt.)
Das nicht, das alles nicht. Aber miese Stimmung hätte es schon gegeben, vielleicht auch einen gewissen Schock, und Angst natürlich. Denk doch nicht, sagte Lutz, alle Deutschen seien Sadisten gewesen.
(Ein überlebender ehemaliger Auschwitz-Häftling, befragt, was er über den Charakter der SS-Bewacher aussagen könnte, antwortet: Schwierig, darüber etwas zu sagen. Sadisten nur wenige, die sich natürlich nach vorne schoben, weil sie ihre Veranlagung voll austoben konnten. Die übrigen – zirka 7000 im ganzen –, ich würde sagen: austauschbar.)
Ja glaubt ihr denn, sagte Lutz, während ihr die letzten Kirschen aus der Tüte aßet, man könnte unsere Industriezivilisation haben – mit allen Bequemlichkeiten, an denen auch ihr hängt, wenn mich nicht alles täuscht –, die Fließbandarbeit, die ihr immer noch zugrunde liegt, und obendrein den »guten Menschen« als Massenerscheinung?
Macht euch doch nichts vor.
Charlottes Aussprüche, die nach der Begegnung mit den befreiten KZlern düsterer und zahlreicher wurden, mögen doch ein Ausfluß eines bedrängten Gewissens gewesen sein. Sie war in Nellys Umgebung fast die einzige Person, die die Voraussetzung für ein Gewissen besaß: das Vermögen, sich in Menschen einzufühlen, die nicht zu ihrem eigenen engen Kreis gehörten. Was sagte sie denn? Sie sagte: Bei Philippi sehen wir uns wieder. Oder sie sagte: Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle bewahrt die kindlich reine Seele. Sie magerte ab. Sie steckte ihren Rock mit einer großen schwarzen Sicherheitsnadelzu, sie trug keine Olympiarolle mehr, ihr Haar, nicht mehr gefärbt, ergraute schnell und war zu einem Dutt am Hinterkopf zusammengezwirbelt, an ihren dünnen Beinen traten die Adern stark hervor: So schritt sie finster neben dem Kastenwagen her.
Nelly fühlte, daß ihre Mutter ihr fremder wurde durch ihr Schicksal, das sie um keinen Preis mit ihr teilen wollte: Eine gut aussehende, lebenspralle Frau von fünfundvierzig Jahren verwandelte sich in einem Jahr zu einer ausgemergelten, grauhaarigen Alten. (Die Überfunktion der Schilddrüse als medizinische Erklärung für die katastrophale Veränderung, für die es natürlich keine fotografischen Belege gibt, wohl aber genaue Erinnerungsbilder; doch erklärt die Erklärung das Wichtigste nicht: Was die Schilddrüse zu ihrer erhöhten Tätigkeit antrieb. Da trafen die Alten es besser, wenn sie sagten: Aus Kummer fällt sie vom Fleische.)
Die einschneidende Weigerung der Kinder, sich in das Drama der Mütter einzufühlen. Die Verzweiflungsausbrüche der Mütter über winzige Verfehlungen, die ihnen die Kinder täglich zufügten, nicht bösartig – gedankenlos. Der Feind rückt einem auf den Pelz, und das Mädel pflückt Blumen! Gänseblumen, mit denen eine Wiese gesprenkelt war. Hast es
Weitere Kostenlose Bücher