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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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nicht gehört? Die Amerikaner! Was werden die nun mit uns anstellen.
    Zuerst befahlen sie ihnen – durch Zuruf von der Spitze des langen Trecks her –, von den Wagen zu steigen. Sie hielten in einem Hohlweg, den du, sooft du in der Nähe von Schwerin nach ihm gesucht hast, nicht wiederfinden kannst. Das ist dir nicht einmal unlieb. Eigentlich gehört es sich, daß jenen Ort, der für die Erinnerung trotz des strahlenden Maiwetters in ein düsteresZwielicht getaucht ist, die Erde verschluckt hat. Schauplätze allzu schwerwiegender Ereignisse können sich auf Erden nicht halten. Sie tauchen im Gedächtnis unter und hinterlassen an den Stellen, wo sie wirklich gewesen sind, blasse, unkenntliche Abdrücke.
    Nelly hatte große Lust, bockig zu sein. Nicht abzusteigen, die Hände nicht aus den Manteltaschen zu nehmen, nicht durch die sehr schmale Schleuse zwischen zwei lässigen baumlangen amerikanischen Sergeanten zu gehen. Diese unzumutbar schmale Lücke, durch die man sich einzeln schob, um sich nach Waffen abtasten zu lassen, war nun der einzige Ausweg. Nelly empfand es scharf. Charlotte, die ihre Tochter im Auge behielt, zog sie am Arm mit: Keine Dummheiten jetzt. Mit Verlierern wird nicht gefackelt. Zu befehlen haben jetzt die. Daran gewöhn dich, und zwar möglichst schnell.
    Das kam ja überhaupt nicht in Frage.
    Was die anderen taten, sollten sie mit sich selbst abmachen: über kleinen, schnellen, hell lodernden Feuerchen am Straßenrand die Wehrmachtspapiere verbrennen, manchmal auch Litzen und Tressen, manchmal ganze Offiziersjacken; eilfertig die drei amerikanischen Offiziere grüßen, die in lässiger Haltung, unnahbar und stumm in einem Jeep den Hohlweg entlangfuhren und eine Musterung ihrer Gefangenen vornahmen. Nelly rührte keine Hand. Sie zog auch ihren Blick zurück. Ihr Stolz war ungebrochen. Undurchdringlichen Gesichts, auf dem sie Verachtung zu zeigen suchte, ließ sie sich abtasten; ihre Uhr – die ersten Amerikaner ihres Lebens waren auf deutsche Uhren scharf! –, ihre Uhr hatte sie in die Manteltasche gesteckt: Sie fanden sie nicht. Winziger Triumph.
    Auf einmal mußte es schnell gehn. Hopphopp, rauf auf die Wagen. Die Pferde antreiben. Ein paar Amerikaner warfen deutsche Wehrmachtsdecken auf die Flüchtlingswagen: Für Nacht! rief einer, das hieß also, daß sie im Freien übernachten würden. Der nächste Sammelplatz war bei dem Ort Warsow. Links von der Straße, auf einer sanft abfallenden großen Wiese, mußten die Zivilisten lagern, rechts wurden die Wehrmachtsangehörigen in einen schnell errichteten Drahtzaunpferch getrieben.
    Ein Vergleich der Erinnerungsbilder mit Filmaufnahmen sowjetischer Kameraleute ergibt, wie erwartet: das Erinnerungsbild ist durch Emotionen verzerrt (Scham, Demütigung, Mitleid); es hat die deutschen Gefangenen nicht bis zu demselben Grad verkommen lassen wie vorher die Gefangenen des Feindes; auf dem objektiven Filmstreifen, der verschiedene Etappen des sowjetischen Vormarsches auf die Reichshauptstadt festgehalten hat, sieht man deutsche Soldaten bei der Kapitulation, dann nach ein, zwei, drei Tagen Gefangenschaft: der rapide Verfall der Gesichter, durch Bartwuchs, Abmagerung, vor allem aber durch Stumpfheit, die die Züge auslöscht. Schnäuzchen-Opa, dessen seltene Äußerungen immer unangenehmer werden, sagt von den Gefangenen hinter Stacheldraht auf der anderen Straßenseite: Wie das liebe Vieh auf der Weide. – O mein Gott, wenn der alte Mann doch endlich lernen würde, den Mund zu halten.
    Der Maiabend war kalt. Es mußte im Freien abgekocht werden. (Aus undurchschaubaren Gründen heißt im Freien kochen »abkochen«.) Es mußte dürres Unterholz aus einem parkartigen Waldgelände herbeigeschafftwerden, Steine für einen Herdbau, Wasser. Wasser? In den Villen auf der Anhöhe lagen die Amerikaner. Das half nun alles nichts. Charlotte griff sich einen Eimer, drückte Nelly den zweiten in die Hand. Wolln doch mal sehn, ob das Unmenschen sind. Falls was passiert, du rennst weg, um mich ist’s nicht schade. Nelly grimmig entschlossen, nicht von der Seite der Mutter zu weichen.
    In dem kleinen Haus standen alle Türen offen. Charlotte und Nelly traten in den fremden Hausflur, in dem amerikanische Militärmäntel an den Haken hingen, als gehörten sie dahin. Aus dem oberen Stockwerk kam fremde, kreischende Musik. Jemand sang einen unverständlichen Text mit. Vor der Küchentür ein Haufen leerer Konservendosen. Der fremde, unsympathische Geruch. Die leben hier

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