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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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wichtigen Straßen. Nelly war gerecht. Ihr Prinzip war: Pro Hof ein Fuhrwerk, in gleichmäßigen Abständen. Auf dieser Grundlage verfertigte sie die Liste und benachrichtigte die Spanndienstpflichtigen. Da erschien am Nachmittag Schuster Sölle bei ihr, trat ein, ohne anzuklopfen, riß sich die Mütze vom Kopf, warf sie vor sich auf die gescheuerten Dielen und fing an, sie anzuschreien. Nelly verstand das Mecklenburgische hinreichend. Sie begriff, daß Schuster Sölle sie wegen Ungerechtigkeit in der Spanndienstfragebeschimpfte. Er, Sölle, sei nicht mehr der Schmutzfeudel der Behörden. Die Zeiten seien vorbei. – Nelly wußte, daß »Feudel« soviel wie Scheuerlappen hieß.
    Nun war ihr Schuster Sölle als einziger Kommunist des Dorfes und als aufbrausender Charakter bekannt. Sie fühlte in sich die Kraft, aufbrausenden Charakteren entgegenzutreten, besonders wenn sie so eindeutig im Recht war wie jetzt. Dies sagte sie auch und erntete Hohn: Sölle schien zu beanstanden, daß Pahlke und Frees und Laabsch, die jeder vier bis sechs Pferde im Stall hatten, nicht mehr Spanndienste leisten sollten als er mit seiner einen halbverhungerten Krücke.
    Pro Hof ein Fuhrwerk, sagte Nelly.
    Sölle sagte, sie könne sich mit ihrer Liste den Arsch wischen, und ging.
    Dann geschah etwas Einmaliges.
    Bürgermeister Steguweit erschien voll angekleidet aus seinem Schlafzimmer, schritt wortlos zum Telefon auf Nellys Tisch, das seit kurzem wieder in Betrieb war – Bardikow verzeichnete sieben Anschlüsse –, drehte die Kurbel, wählte eine Nummer und gab dem Bauern Pahlke Änderungen an der von Nelly aufgestellten Spanndienstliste durch, die zu Sölles Gunsten und zu Pahlkes Ungunsten ausfielen. Merkwürdig war: Vom anderen Ende kam kein Widerspruch. Nelly sollte die neue Liste zu Sölle bringen.
    Nein, sagte sie. Das sehe sie nicht ein. Da könnte ja jeder kommen.
    Tscha, sagte Richard Steguweit. Ein jeder kommt aber nicht, Frollein. Das ist der Unterschied.
    Einer der seltenen Träume der letzten traumlosenZeit: Du sitzt vor einer dir wohlgesinnten Menge und sollst aus einem dünnen Buch vorlesen, das aber in polnischer Sprache geschrieben ist. (Die Sprachen der anderen, vor denen man versagt.) Das dünne Buch, dessen Text du nicht entschlüsseln kannst, dessen Sinn du der Menge schuldig bleibst. Das dicke Buch, in das Jahre deines Lebens eingehen. Das du willst und zugleich nicht wollen kannst. Mit angezogener Bremse fahren. Schädigt den Motor.
    Daß du nicht verstandest, was passierte, als der Herzrhythmus entgleiste, aber sofort begriffst, warum es passierte. Das Organ hatte die heikle, vielleicht gefährliche Aufgabe übernommen, den Zustand schweren inneren Gejagtseins zu vermelden, den du anders nicht zur Kenntnis nehmen wolltest. Die Sprache unserer Organe, die wir nicht entschlüsseln können, weil wir eisern entschlossen sind, Körper- und Seelengedächtnis voneinander zu trennen. Die Einsichten, die zufließen, während die Ärzte Todesangst vermuten und das Wort »Erleichterung« nicht gelten lassen würden. Ungeheure Erleichterung, obwohl die Spritzen immer noch nicht wirken. Ausspannen nicht mehr als verbotene Sehnsucht, sondern als Gebot. Diese Erschöpfung. Kein Grund mehr zur Verlegenheit, sie hat sich legalisiert. Schwäche, nun ja. Du mußt sogar lachen über die List des Körpers. (Ein Körper verharrt so lange im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung auf geradliniger Bahn, solange er nicht durch eine Kraft gezwungen wird, diesen Zustand zu ändern. Welche Kraft? fragt der Physiklehrer, ein schwerkranker Mann, evakuiert aus dem zerbombten Berlin. Nun: die Schwerkraft. Nun: der Reibungswiderstand der Unterlage. Nun: derLuftwiderstand. Oder denken Sie, was man nicht sieht, könnte keinen Widerstand leisten?)
    Erschöpfen von ausschöpfen? Die schwere Versuchung, abzubrechen. Es handelt sich ja nicht um eine Geschichte, die notwendig zu einem bestimmten Ende führen muß. Oder welches wäre der gedachte Punkt, bis zu dem sie vorgetrieben werden müßte? Im Krankenhaus, ohne Arbeitslust, unter den ersten, noch unverstandenen Anfällen von Angst, glaubst du klar zu sehen: Der Endpunkt wäre erreicht, wenn zweite und dritte Person wieder in der ersten zusammenträfen, mehr noch: zusammenfielen. Wo nicht mehr »du« und »sie« – wo unverhohlen »ich« gesagt werden müßte. Es kam dir sehr fraglich vor, ob du diesen Punkt erreichen könntest, ob der Weg, den du eingeschlagen hast, überhaupt dorthin

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