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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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hieß, als sie Rosemarie Steguweit mit dem Engländer bekannt machte. Die war bereit, ein Frühstück aufzutragen. Nelly blieb mit dem Sieger allein, beide wortkarg. Er besah sich, fast ohne den Kopf zu bewegen, gründlich jedes Stück der Einrichtung. So stellt er sich nun für immer ein deutsches Bürgermeisteramt vor, dachte Nelly. Aber sie sah nicht ein, daß sie ihm klarmachen sollte, welch ein Zufall es war, daß an der Wand zwischen dem Ofen und der Pendeluhr auf Kanevas gestickt der Spruch hing: Wer Gott vertraut, hat wohlgebaut.
    Ein Schrecken: Die unglückselige Rosemarie Steguweit brachte Frühstück für zwei. Schinken und eingemachte Leberwurst. Der Engländer und Nelly übereck an dem großen Tisch, von dem die Papiere weggeschoben werden. Nach einiger Zeit die Erkundigung, ob es dem ungebetenen Gast schmeckt. O yes, thank you. – Schweigen. Nach einer Weile von seiner Seite der denkwürdige Satz: General Montgomery dürfte nicht wissen, mit wem er hier an einem Tisch sitze. – Wieso? – Jeder Umgang mit der deutschen Bevölkerung sei ihnen streng untersagt. Fraternisierungsverbot. (Assoziation bei jeder Wiederholung des Brecht-Liedes mit der Zeile: »Und’s wird fraternisiert ...«)
    Was tut die Vertreterin der deutschen Bevölkerung in diesem Fall? Sie nimmt Teller und Becher, erhebt sich von dem gemeinsamen Mitteltisch und setzt sich, denRücken zum Sieger (unsere germanischen Vettern!), an ihren Fensterplatz. Der Engländer, der es so nicht gemeint haben will, ißt nun nicht mehr allzuviel, zahlt an Frau Rosemarie, grüßt knapp und geht. Nelly sah ihn auf sein blitzend neues Rad steigen. Er verschwand für immer. Ihr ist es ein hoher Genuß gewesen, den Befehl des feindlichen Generals Montgomery zu befolgen.
    Ziemlich lange denkt sie, sie hat recht getan. Ziemlich lange noch – siehst du heute – stehen Recht und Unrecht nicht in Frage. Personen, die erlösende oder wenigstens aufklärende Worte sprechen könnten, sind leider immer noch nicht in Sicht. Immer noch nur die fünfhundert Leute im Dorf Bardikow, die hundert von Großmühlen, die von der Weltgeschichte nur wissen wollen, daß sie sie ins Elend geführt hat, und die fast alle in Panik geraten, als eines Tages unter Umgehung der deutschen Behörden die britische Besatzungsmacht am Anschlagbrett bekanntgibt, daß sie auf Grund gewisser Vereinbarungen um Mitternacht von der sowjetischen Besatzungsmacht abgelöst werde. (Vom 1. bis 3. Juli 1945 zogen sich die Alliierten auf die vereinbarten Besatzungszonen zurück.) Alle Straßen seien wegen der Truppenbewegungen für Zivilpersonen gesperrt. Die Bevölkerung wird gebeten, Ruhe zu bewahren.
    Die Russen kommen. Nachts gegen zwei Uhr klopft es stark und anhaltend gegen die schwer verriegelte Haupttür des Bendowschen Schlosses in Großmühlen. Charlotte sagt: Das kann wieder bloß uns passieren. Ausgerechnet wenn die Russen kommen, müssen wir wie Graf Koks von der Gasanstalt im Schloß wohnen. Tante Liesbeth Radde ist der Meinung, daß es ganz egal ist, wo einer wohnt, wenn die Russen kommen.
    Macht denn keiner auf ? Charlotte befiehlt ihren Kindern, sich im Dunkeln anzuziehen. Sie selbst werde unten nach dem Rechten sehen. Das sah ihr ähnlich.
    Die Mamsell flüchtete ins Zimmer, schwer keuchend, und bat, man möge sie verstecken. Die Mamsell war eine korpulente Frau um die Fünfzig mit Augen wie Stecknadelköpfchen und krausem farblosem Haar, in dem eine Unzahl winziger Klemmen steckte. Ihr Mansardenzimmerchen, hatte Nelly sagen hören, sei ein Schmuckkästchen. Jetzt warf sie sich in Kleidern und schmutzigen Schuhen auf Charlottes Lager.
    Im Erdgeschoß hatte das Klopfen aufgehört. Bewegung, Laufen. Fremde, sehr fremde rauhe Stimmen. Die jagten in Nelly die Angst hoch.
    Es dauerte lange, bis Charlotte wiederkam. Ihr Schwager Alfons Radde prophezeite ihr inzwischen mehrmals »nichts Gutes«. Mehrmals brach Tante Liesbeth in nervöse Tränen aus.
    Als Charlotte eintrat, brachte sie einen fremden Geruch mit. Das erste, was sie sagte, war, daß die Bendows »ausgemachte Dummköpfe« seien: Die Besatzungsmacht klopft an die Tür, und die sitzen im Salon und machen sich in die Hosen, anstatt hinzugehn und zu öffnen und ihnen das Haus zu übergeben.
    Woher sie bloß wußte, wie man sich verhält, wenn der Sieger an die Tür klopft. Sie hatte also aufgemacht? – Wer denn sonst. – Und? – Und, und! Sie hatten Frauen bei sich, in Uniform.
    Die eine, die Deutsch kann, hat mich gefragt: Du

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