Kindheitsmuster
Besitzer? – Flintenweiber! – Dann hab ich sie durch die untere Etage geführt. Schöne Zimmerchen, kann ich euch sagen. Die haben sich ausgesucht, wo sie wohnen wollen.– Und? – Jetzt kommt was Komisches. Wißt ihr, was sie verlangt haben? Handtücher.
Man schwieg. Dann sagte Alfons Radde: Da machen die sich Fußlappen draus.
Nee, sagte Charlotte. Das machen die nicht.
Die Tür ging auf. Die Mamsell kreischte. Ein sehr junger russischer Soldat stand da mit einer Taschenlampe. Er leuchtete das Zimmer ab, der Strahl huschte über Nellys Gesicht. Charlotte fuhr die Mamsell an: Nehmen Sie sich zusammen, Menschenskind!, und zu dem Soldaten sagte sie, indem sie wie zu einem Schwerhörigen laut und deutlich sprach: Flücht-lin-ge – verstehn? – Ah, gutt! sagte der Soldat und ging. Das Stroh auf dem Fußboden mochte ihm mehr eingeleuchtet haben als Charlottes Erklärung.
Das Schloß wurde zur Kommandantur erklärt und von Deutschen geräumt. Nelly machte für ihre große Familie im Pfarrhaus von Bardikow Quartier. Die Strohschütte auf dem Boden blieb, die Kammern, in die sie gepfercht wurden, wurden immer kleiner. Schräge Wände, Dachluke als Fenster. Zweifellos war es ein Abstieg, auch wenn die Pfarrfrau, Hermine Knop – die ihres Mannes Obliegenheiten versah, solange der in Kriegsgefangenschaft war –, die neuen Hausgenossen mit einem »Gott zum Gruß!« empfing. Sie bat Charlotte, »Frau Pfarrer« zu ihr zu sagen, auch wenn sie womöglich nicht gläubig sei. – Der liebe Gott stellt sich nicht gut mit uns, sagte Charlotte. Das müssen Sie zugeben, Frau Pfarrer. –
Frau Pfarrer Knop glaubte – es war kein Zweifel, sie glaubte –, daß Jesus Christus es mit dem Gebot der Nächstenliebe ernst, bitterernst gemeint hatte. Kein bösesWort kam von ihren Lippen. Aber Freundlichkeit kann man nicht essen, und wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren, und der liebe Gott wohl auch. Tante Liesbeth mußte es eines Tages ablehnen, sich mit den andern Flüchtlingsweibern um eine Ecke für ihre Pfanne auf dem großen Pfarrherd zu streiten. Man mußte sich entschließen, im Freien abzukochen, das heißt, auf dem Pfarrhof eine Feuerstelle bauen, aus Ziegelsteinen einer alten Feldscheune. Man mußte sich mit den Wolhyniendeutschen, die schon lange im Freien kampierten, nun doch auf eine Stufe stellen. Man mußte lernen, daß man immer noch tiefer fallen kann. Das schmachvollste Zeichen: Schnäuzchen-Oma aß Buletten aus Pferdefleisch und tat, als wüßte sie nicht, was sie aß. Zu Hause hatte sie den Kindern ihre Kasserolle verweigert, in der sie die Pferdewürstchen vom Pfingstrummel wärmen wollten. Nelly sah ihre Großmutter das Pferdefleisch essen.
Nebenan, in der linken Dachkammer, starb inzwischen Herr Mau, der Konsistorialrat aus Posen. Vor zwei Wochen hatte man ihn, der früher ein mächtig ausladender Mann gewesen sein mußte, noch gebückt durchs Haus und über den Hof gehen sehn. Er gehörte zu den Flüchtlingen, die Zutritt zum Wohnzimmer der Frau Pfarrer hatten. Sie besprach liturgische Fragen mit ihm, er war ihr eine rechte Stütze. Seine Frau, ein ältliches, vertrocknetes Mäuschen, huschte klagend umher und beweinte das Rosenthaler Service in ihrem Vertiko in Posen. Die Kinder, auch Nelly, nannten sie niemals anders als Frau Miau, Bruder Lutz und Vetter Manfred gingen so weit, den Spitznamen hinter ihr herzurufen. Frau Mau wusch jeden Tag Pikee-Manschettenund Kragen aus, die sie in ihr einziges mausgraues Kleid einnähte. Nikolaus, ihr Mann, liebte das Adrette.
Nun starb er. Schwer zu sagen, woran. Die Gemeindeschwester Martha vermutete, sein Herz sei nicht das beste. Nie gewesen, jammerte Frau Mau. Doch war ihr Mann immer stark wie ein Baum, das sagte sie mehrmals am Tag: Ist er nicht stark wie ein Baum? Die Kinder hörten auf, »miau« zu schreien. Frau Pfarrer Knop nahm geheime Verhandlungen mit dem Tischler des Dorfes auf. Soweit es an ihr lag, sollte keiner ihrer Hausgenossen wie ein Hund in der Erde verscharrt werden. – Nelly also ging mit Volkmar Knop auf den Friedhof, Herrn Mau eine Grabstelle auszusuchen. Die Würde des Todes wurde ihr sehr deutlich, da man dem Sterbenden einen Raum für sich allein zugestand: die Männerkammer, zwei mal drei Meter groß. Schnäuzchen-Opa, Onkel Alfons Radde, Bruder Lutz und Vetter Manfred richteten sich auf dem Vorboden ein. In der Frauenkammer blieb der Platz von Frau Mau leer, da sie ja das Sterben ihres Mannes zu überwachen hatte. Sie stellte
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