Kindheitsmuster
ihm zu hören bekam.
Durchs Fenster sah sie ihn in schlapper Haltung zum Lastwagen gehen, dessen Rückklappe heruntergelassenwar. Es hockten schon zwei männliche Gestalten auf der Ladefläche, die glichen Untermann in nichts als in ihrer gemeinsamen Angst. Sie griffen von oben zu, zogen, während die Militärpolizisten – weißes Koppel, weiße Schulterriemen, weiße Pistolentaschen – von hinten schoben und sich dann zu den drei Inhaftierten hinaufschwangen. Die Klappe verriegelte Sergeant Forster. Der Captain stieg ein, gab dem uniformierten Neger am Steuer, der, immer kauend, ungerührt und unbeweglich geradeaus blickte, den Abfahrtsbefehl. Der startete mit einem Ruck vom Stand weg, so daß, was auf der Ladefläche hockte, übereinanderfiel. Und dies war das letzte, was Nelly von Studienrat Untermann zu sehen bekam: Am Boden des amerikanischen Lastwagens einen ehemals dicken Mann Ende Fünfzig, in seinem einzigen, ehemals besten grauen Anzug, der um seine Glieder schlotterte, so wie die Backentaschen schlotterten in seinem ehemals feisten Gesicht. Ein Häufchen Elend.
Tschä, sagte Bürgermeister Steguweit. Wo dat so hinhaun deit.
Nelly rückte in Untermanns verantwortliche Position auf, ohne ihren Platz im Büro zu wechseln.
Sie wußte nicht, sagt Lenka, und sie könne es auch nicht glauben, daß nicht jedes Mitglied der NSDAP zugleich ein strammer Nazi war. Dein Bürgermeister, sagt sie, hat bestimmt Dreck am Stecken gehabt. Du sagst: Ja. Er war arm. – Es ist zwölf Uhr mittags, der Sonntag im Juli 71, immer noch die Hitze; die ehemalige Friedrichstraße, das Dorf Weprice liegen hinter euch. Was bleibt, ist der Rückweg. Lenka fragt nach Richard Steguweit, der seine fünfundzwanzig Jahre in mecklenburgischerErde begraben liegt, nach dem sonst keiner mehr fragt. Wieso ist er Nazi geworden, wenn er arm war?
Wie lange hat Nelly gebraucht, das herauszufinden? Die zwei Jahre in Bardikow liefern ihr nur Material für spätere Schlüsse: Häusler Steguweit, 8 ha, leiht sich vom Bauern Pahlke, 74 ha, Jahr für Jahr die Zugmaschinen. Als der Bürgermeisterposten vakant wird – anno 37 –, will Pahlke selber ihn nicht besetzen. Er ist nicht erpicht, in die Partei zu gehen. Steguweit ist auch nicht erpicht, aber er geht dann doch und wird Bürgermeister. Pahlke ist fein raus. An Steguweit, der arm ist, bleibt der Nazi kleben.
Wie in schlechten Büchern, sagt Lenka. – Wieso? – Genau so, wie man sich das vorstellt. – Es läßt sich nicht immer vermeiden, daß die Wirklichkeit in Büchern mit den landläufigen Vorstellungen von ihr übereinstimmt. Das Hauptkennzeichen schlechter Bücher ist es auch nicht, daß ihre Darstellung den gängigen Vorstellungen teilweise entspricht. – Sondern was? – Sondern, daß sie darauf aus sind, ihnen vollkommen zu entsprechen. –
Was heißt das, auf Steguweit angewendet?
Ja gut. Aber.
Aber Richard Steguweits Sohn war ein schöner Mann. Eine Lichtgestalt. Nelly hat wochenlang unter seinem Bild an Rosemarie Steguweits Seite im Schlafzimmer der Eheleute geschlafen. Nelly hat gesehen, wie Rosemarie Steguweit jeden Abend zu diesem Foto – betete, es gibt kein anderes Wort. Sie hat gesehen, daß Rosemarie Steguweits erster Blick an jedem Morgen, den der liebe Gott werden ließ, diesem Foto galt, demKlein Edeltraud ähnlich zu werden versprach, während Jung Dietmar ganz nach seiner Mutter kam. Und Nelly hat gehört, wie Richard Steguweit im Streit mit seiner Schwiegertochter den Sohn verfluchte: Seine Mutter hat er ins Grab gebracht, uns alle wird er ins Unglück stürzen, wenn er zurückkommt. Verflucht soll er sein. Darauf wieder Rosemarie: Sich so an seinem eigenen Fleisch und Blut zu versündigen, in deinem Alter!
Biblische Szenen. Lenka kann das nicht beurteilen, sie hält sich da raus. Die Sonntagsdörfer, durch die ihr fahrt – alles Straßendörfer –, die Gruppen von jungen Leuten, die kurz vor Mittag auf der einzigen Straße flanieren, nach Geschlechtern getrennt. Langweilen sie sich? Sie sehen den Autos nach, die selten vorbeikommen. Sie tragen weiße Hemden und Jeans oder kurze Röcke und bunte Blusen. Wenn Mädchen und Jungen zusammen stehen, dann in Gruppen, nicht paarweise. Wie aufm Dorf bei uns, sagt Lenka.
Nelly begriff als letzte, daß sie in die Lage geraten war, Macht auszuüben. Zum Beispiel oblag es ihr, die Fuhrwerke des Dorfes für Spanndienste einzuteilen – Sandfuhren von der Kiesgrube zur Ausbesserung der gröbsten Panzerschäden an
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