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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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führt. Es schien dir immerhin nicht wünschenswert, vorher aus der Welt zu gehen – wovon übrigens keine Rede sein konnte. Heimliche Rechnungen, die nur in Zeiten von Unglauben aufkommen: Unglauben an die Unerschöpflichkeit gewisser Fähigkeiten oder Antriebe. Oder Zwänge.
    Ekel vor dem Wort »schöpferisch«.
    Das Ungelebte ist das Wirksame und zugleich das, worüber schwer zu reden ist. Tief in der Höhle der Erzählung. Schwacher Schimmer vom Ausgang her. Unkenntnis der Natur des Lichts, das dich draußen erwartet.
    Steckt denn in der Frage »Wer bist du?« noch irgendein Sinn? Ist sie nicht hoffnungslos veraltet, überholt von der Verhörfrage: »Was hast du getan?«, die in dir selbst auf die schwache Gegenfrage stößt: Was hat man mich tun lassen? – Das Verantwortungsgefühl, abgenutztam nicht Verantwortbaren, das den Fluß der erzählenden Rede zum Stocken bringt. »Ohne Auftrag kämpfen und das Seine tun?« (Lenkas Erinnerung, du habest einmal, als sie krank war, eine ganze Nacht lang an ihrem Bett gesessen, immer, wenn sie wach wurde, habe sie dich gesehen; sie glaubt, auf diese Weise habest du ihr das Leben gerettet, denn vom Morgen an sank das Fieber. Sie weist deine Richtigstellung zurück, daß ihre Krankheit schwer, aber nicht lebensgefährlich gewesen sei; genug, daß sie es geglaubt habe und du ihren Glauben ernst genommen hättest. Du verstehst. Sie liefert dir Entlastungsmaterial.)
    Nelly also. Ein Fall von Not-Reife, mit sich selbst sehr unbekannt. Erzogen und gewohnt, Notbremsen zu ziehen: Strenge, Konsequenz, Verantwortungsbewußtsein, Fleiß. Unbekannt, was sie damals geträumt haben mag. Sie gab nichts auf Träume. Dafür nahm sie sich tragisch, lernte erst viel später, davon abzulassen.
    Von den neuen Behörden in der Kreisstadt kam die Anweisung, eine Einwohnerzählung in den Gemeinden vorzunehmen; Nelly ging von Haus zu Haus und zählte einen jeden, getrennt nach Einheimischen, Flüchtlingen; nach Geschlecht und Altersgruppe, stieg zu Bürgermeister Steguweit auf den alten Zweisitzer, legte in der Kreisstadt ihre Listen vor, setzte ernsthaft ihre Unterschrift neben die vom Bürgermeister »für die Richtigkeit« der Volkszählung und fuhr dann mit einer Aktentasche voller Lebensmittelkarten ins Dorf zurück: Für die haftete sie mit ihrem Kopf. Auf der Rückfahrt erörterte sie mit Richard Steguweit, wie sie sich bei einem bewaffneten Raubüberfall – der ja nicht außerhalb des Menschenmöglichen lag – zu verhalten hätten: Ich alterMann bleib sitzen, Sie, Fräulein, packen die Tasche und fliehn in den Wald. Wenn wir ohne die Karten ins Dorf kommen, bringen die uns sowieso alle beide um.
    Vom Wechsel der Besatzungsmächte erfuhr Nelly als erste, durch einen Anruf. Die britische Besatzungsmacht werde Bardikow übernehmen. Sergeant Forster verschwand mit seiner Truppe. Büdner Theek zog wieder in sein Haus, vergrub die leeren Flaschen und Dosen hinter seinem Gartenzaun und begann einen Handel mit Nescafébüchsen, die in einem angerissenen Karton in seiner Mansarde stehengeblieben waren. Unter anderen, vergänglicheren Waren brachte das Geschäft ihm ein Silberbesteck, eine grünseiden bezogene Stehlampe mit Perlenfransen, ein Ölbild, auf dem ein Waldbach zu Tale floß, über welchen ein Holzbrückchen mit Geländer führte, vor allem aber einen mit Pailletten besetzten schwarzen Umhang für seine zwanzigjährige Tochter Ilselore, die ein bißchen schwindsüchtig wirkte und die er über alles liebte.
    Der liebe Gott im Detail, betrachtet mit den frischen Augen der Überlebenden. Wiedererwachte Neugier als untrügliches Lebenszeichen, unabhängig von Stimmungen. Miniaturen. Beispiel: Die britische Besatzungsmacht in der baumlangen, rotblonden Person eines einzelnen radfahrenden Soldaten, der eines schönen Tages im Juni in seiner gelbbraunen Uniform, mit seiner Baskenmütze an des Bürgermeisters Gartentür stand, sein Fahrrad gegen die Hecke lehnte, es dann doch noch anschloß, kurz darauf an die Bürotür klopfte. Seine erste Frage nach dem korrekten Gruß lautete, auf englisch: Ob sie Englisch spreche. Und Nelly, in der zwei Arten von Stolz miteinander stritten, sagte schließlich: Yes.
    Der Engländer, der in überaus starkem Maße ein Engländer war, bildete nach eigener Aussage eine Patrouille, gehalten, sich bei den Bauern selbst zu verköstigen, gegen Bezahlung selbstverständlich. Er wies Besatzungsgeld vor. Nelly hatte vergessen, was »Schwiegertochter« auf englisch

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