Kindheitsmuster
sich ausdenken könnte. Im August des Jahres 45 wird sie noch einmal – das vorletzte Mal in diesem Jahr – mit ihrer Familie umziehn. Ein Drittel des Dorfes Bardikow, das Pfarrhaus dabei, wird geräumt für eine sowjetische Einheit. Der Soldat, der den Räumungsbefehlin die Bürgermeisterei bringen will, trifft auf eine verschlossene Tür: Nelly hat ihn von ihrem Fensterplatz aus kommen sehen. Sie ist allein in der Stube, die Angst vor dieser fremden Uniform, vor diesem fremden jungen Mann, der ziemlich groß ist, bäurisch aussieht, einen Bart auf der Oberlippe hat, fährt ihr in die Knochen. Die Angst schaltet den Kopf aus, setzt die Beine selbständig in Bewegung: Nelly stürzt zur Tür, durch den Vorflur, an die Haustür, die sie abschließt, kurz ehe der Soldat die Klinke drückt. Sekundenlang die beiden Gesichter, nur durch die Riffelglasscheibe getrennt, verzerrt in Angst und Verblüffung. Dann Wut auf der Seite des Russen.
Banaler Vorgang, über den heute im Kino gelacht würde – ein Beispiel für Fortschritt. Amüsiert würden die Zuschauer dieses immer noch kopflose Mädchen durch die Hintertür hinausrennen und in panischer Furcht über Koppelzäune klettern, über die Viehweiden hinter dem Dorf rennen sehen, während der Soldat so heftig an der Bürgermeistertür rüttelt, daß die Riffelglasscheibe herausfällt und im Flur zerschellt. Während Rosemarie Steguweit sich in den Kuhstall flüchtet und der Bürgermeister selbst nun doch gezwungen ist, seinen heißen Ziegelstein vom Bauch zu nehmen, in seine braunen Kordhosen zu steigen und eigenhändig dem russischen Soldaten zu öffnen. – Komödie bestenfalls, in der das reine Mißverständnis als Handlungsmotor ja erlaubt ist.
Jedoch gelacht wird nicht, während man Blut und Wasser schwitzt. Das Dorf hat die Nachricht schon in Gang gesetzt – als Lauffeuer, das schneller läuft als Nelly. Ihre Mutter ist schon in Panik, als sie keuchendbeim Pfarrhaus ankommt: Das Fräulein vom Bürgermeister ist von einem Russen bedroht und vergewaltigt worden.
Große, tränenreiche Szene.
Am nächsten Tag die unvermeidliche Auseinandersetzung mit dem Bürgermeister wegen der zerbrochenen Scheibe, die Nelly für eine Bagatelle erklärt, während der Bürgermeister darauf besteht, daß sie jeden Besucher der Bürgermeisterei zu empfangen habe, ohne Ausnahme. Im übrigen muß sie den Leuten im Westteil des Dorfes klarmachen, daß sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden ihre Häuser zu räumen haben. Und denen, die ihre Häuser nicht räumen müssen, daß sie noch mehr Einquartierung bekommen.
K. L., dein Moskauer Freund, dem du als erstem Russen die Geschichten aus Bardikow erzählst, vermutet, die Räumung des Dorfes wäre nicht als Komödie darstellbar. Das gibst du zu. Obwohl, sagst du, es auch dabei Momente gab ... Frau Pfarrer Knop zum Beispiel, die, von ihren beiden Söhnen flankiert, in aufrechter Haltung vor dem zukünftigen Kommandanten von Bardikow erschien – einem Leutnant –, um zu erwirken, daß das Pfarrhaus zur neutralen Zone erklärt und vom Räumungsbefehl ausgenommen werde. Ihr tragisch gemeinter Auftritt scheiterte vor dem verständnislosen Gesicht des Leutnants Pjotr, doch fand sie einen Abgang in Würde. Anders als wenige Tage später die alte Stumpen, die dem Kommandanten die Wäsche gewaschen hatte und sich mit »Heil Hitler!« von ihm verabschiedete, woraufhin sie floh, sich versteckt hielt und nach einer Woche, ihrer Exekution gewärtig, von zwei Soldaten vorgeführt werden mußte. Der Kommandantübergab ihr, anstatt sie eigenhändig zu erschießen, bitterernst einen Sack voll schmutziger Wäsche, mit dem sie dann durchs Dorf lief wie Hans im Glück und jedermann mitteilte, sie schwöre auf den Kommandanten.
Da war sie sicher die einzige.
Arbeitet das Gedächtnis mit Vorliebe als Anekdotenspeicher? Etwas in seiner Struktur scheint der Struktur der pointierten Geschichte entgegenzukommen. Eine Struktur ist eine Menge – von Punkten und so weiter –, in der gewisse Relationen geklärt sind. Die Verarbeitung schwieriger Geschichtsabschnitte, in denen gewisse Relationen noch ungeklärt sind, zu Zeitungsanekdoten, aus Anlaß von Jahrestagen. (»Dreißigster Jahrestag der Befreiung«.) Anwendung der Mischtechnik: Löschen, auswählen, pointieren. Erzählbar bleibt, was der Chefredakteur einer jeden Zeitung annehmen kann: Heilsarmeegeschichten. (So drückt sich der Taxifahrer aus, Herr X: Gehn Sie mir doch vom Leib mit diesen
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