Kindheitsmuster

ihr Jammern ein. Herr Mau hatte es übernommen, zu röcheln und zu stöhnen. In der Nacht kam Bruder Lutz vom Vorboden in die Frauenkammer und legte sich schweigend auf den Platz von Frau Mau, aber die dünne Holztür dämpfte die Todeslaute kaum. Alle lagen still auf dem Rücken und blickten über sich in die Dunkelheit. Nelly wünschte, Herr Mau möge nichts empfinden.
    Lenka behauptet, der Tod gehe anders vor sich, als Lebende ihn sich vorstellen. (Ihr fahrt durch den Ort, der früher Vietz hieß. Die Straßen sind jetzt beinahe leer, auf dem Lande ißt man pünktlich um zwölf. Ihrhabt Durst, der Geschmack der Kirschen ist vergangen. H. sagt: Wartet bis Kostrzyn.) Lenka hat eine Radiosendung gehört. Leute, die für tot gegolten hatten und gerettet worden waren, berichteten über ihre Erinnerungen an den Todesweg. Sie hätten wie auf einer Leinwand die wichtigsten Stationen ihres Lebens erblickt, seien dann aus ihrem Körper ausgewandert, den sie hätten liegen sehen. – So hätte Herr Mau, sagst du, seinen ausgemergelten Leib liegen sehen, auf einer Strohschütte, über die, was den Lebenden nicht zustand, ein weißes Laken von Frau Pfarrer Knop gebreitet war? – Vermutlich, sagt Lenka. – Und hat daneben, zusammengesunken, eine Frau sitzen sehen, die er als Frau Mau erkannte und die er ruhig in ihrem Schmerz zurückließ? Bei jenem Leib, von dem er sich ohne Bedauern verabschiedete? – Angeblich ohne Bedauern, sagt Lenka. Die ihren Tod überlebt hatten, sprachen von einer Aufhebung des irdischen Raum- und Zeitgefühls und daß sie in eine überströmende Musik- und Lichtempfindung eingegangen seien. So daß sie ihrem unvermeidlichen Tod nun mit Ruhe entgegensähen. Ohne Angst. – Schön wär’s ja, sagt Bruder Lutz. Wer’s glaubt, wird selig. Er erinnerte sich genau an Herrn Maus Sterben. Ihr spracht dann noch eine Weile über das merkwürdige Bedürfnis der Menschen, ihren Leib und ihre Seele voneinander zu trennen, in Leben und Tod. Das Gespräch versiegte wegen Hitze und Müdigkeit.
    Als es in der Sterbekammer eine Minute lang still geblieben war, standen alle auf und fanden sich auf dem Vorboden zusammen. Frau Pfarrer Knop kam von unten, voll angekleidet, mit einer Kerze. Sie hatte denÜbergang von Herrn Maus Seele in ihren neuen Zustand mit Gebeten begleitet. Sie öffnete nun, wie es ihr zustand, die Tür. Frau Mau hockte neben dem Toten am Boden und sah ihnen entgegen. Frau Pfarrer Knop zog Herrn Mau das Laken über das Gesicht. Das Laken war zu kurz und reichte nicht für die Füße. Nelly mußte unverwandt auf die Füße der Leiche blicken, während Frau Pfarrer Knop das Totengebet sprach. Dir, Herr, in deiner unerforschlichen Güte ...
    Lange wurde Nelly von der Frage geplagt, woran man auf derart untrügliche Weise die Füße eines Toten von denen eines Lebenden unterscheiden kann. Und immer noch, wenn du »Tod« denkst, stehen dir vor Augen die wächsernen, nach innen gegeneinandergerichteten Füße des toten Herrn Mau.
    Gestorbensein – Überlebthaben – Leben: Woran erkennt man sie? Von den Toten kann man nicht sprechen. Den Überlebenden sind Rück-Sicht und Vor-Sicht versperrt. Die Lebenden verfügen frei über Vergangenheit und Zukunft. Über ihre Erfahrung und die Schlüsse, die sie ihnen erlaubt.

17
    Ein Kapitel Angst, und das ist knapp bemessen.
    Nimm doch einfach – wer hindert dich? – nimm alle Angst aus deinem Leben weg. Die gegenwärtige, die vergangene: Es wäre, vielleicht, das erwünschte Leben (das von anderen erwünschte): Der Kitt des Jahrhunderts herausgeschmolzen. Es zerfiele in Anekdoten, die alle den Vorzug hätten, »machbar« zu sein.
    Das Diktat: Du sollst produzieren! verhindert, denkst du, daß die Fähigkeit zu leiden mit der Zeit andere – alle anderen – Fähigkeiten überwuchert. Es hat, willst du sagen, keinen Einfluß auf die Natur des Materials, das du hervorbringst. Dir wird bewußt: Eben das ist falsch. Es macht dich stutzig, daß du es immer wieder vergißt: Die besondere Natur des Leidens, das »Angst« heißt, ist es, die jene Art von Produkten hervortreibt, in denen du dich erkennst. Wozu es leugnen.
    Die Hoffnung, freizukommen.
    Befreiung als Prozeß. Als Selbstbetätigung, für die ein Jahrestag nicht angesetzt werden kann. Schreibend den Rückzug der Angst betreiben.
    Die noch unbefreiten, noch von Angst besetzten Gebiete: Vorgeschichte.
    Am Beispiel der Fremden, Nelly benannt, die herhalten muß als Lieferant jener Einzelheiten, die niemand