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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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denken an mich jeden Abend, eh du einschläfst, aber weinen sollst du nicht.« (Bruder Lutz, der Dreizehnjährige, ließ keinen Blick von Irene, während sie sang. Ja, sagt er heute noch, die hab ich gut leiden können.)
    Dann hatten »die vier Mädchen« einen Kanon vorzutragen: »Abendstille überall«. Die vier Mädchen waren Irenes jüngere, blondere und kleinere Schwester Margot, Frahms fünfzehnjährige Tochter Hanni, Herta, die Magd, und Nelly. Unübertrefflich aber und unersetzbar war eigentlich nur die Darbietung von Lydia Tälchen, die nicht davor zurückschreckte, sich diesem Kastor, einem undurchsichtigen Hallodri, beinahe auf den Schoß zu setzen und ihn anzuplieren mit ihren großen braunen Kuhaugen, die sich dann aber, wenn sie an die Reihe kam, mit einer schraubenartigen Drehung in Hüften und Schultern zu erheben und, nach kurzer Kunstpause, »Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen« zu geben wußte, und zwar derart innig, daß den meisten die Tränen kamen. Zum erstenmal erfuhr Nelly: Kunst ist imstande, über die Moral den Sieg davonzutragen.
    Nelly hat es einzurichten versucht, daß sie neben Lehrer Schadow zu sitzen kam, den jungen, blassen Menschen, der als erster Neulehrer die Dorfjugend von Bardikow unterrichtete und dem Bruder Lutz noch heute achtungsvolle Worte widmet: Der war nicht derschlechteste. Du, der war schwer in Ordnung. Gehungert hat der, daß die Schwarte knackte. Aber er hat sich von den Bauern nicht mit Speck und Wurst bestechen lassen, ihren Söhnen bessere Zensuren zu geben, als sie verdienten ... Älter als zwanzig, einundzwanzig konnte er doch nicht sein. Wo kam er her, warum war er in keinem Gefangenenlager? Vielleicht war er krank, vielleicht verwundet. Nelly hielt ihn bei sich für »rein« (mein Gott: rein! Das war ihre Bedingung). Sie gebrauchte das Wort nicht, aber so war ihr Gefühl. Natürlich suchte Armin Schadow nicht ihre Nähe, sondern die von Hanni Frahm, die war breit gebaut wie ihre Mutter, fröhlich, geradlinig und arbeitsam, und sie würde, wie sich bald herausstellte, den Lehrer heiraten und hatte ihn auch verdient. Nelly dagegen fügte der Sprüchesammlung an ihrer Bettwand in der Bodenkammer eine Mahnung hinzu, auf weißes Papier geschrieben und mit einer Reißzwecke an die brüchige Wand gepinnt: »Reif sein heißt leiden können / von lieben Wünschen ruhig scheiden können / und alles Glück den anderen gönnen.«
    Im übrigen wurde ihr die unvergeßliche Lehre zuteil: Wenn kein Essen da ist, geht alles ums Essen. Ein für allemal weiß sie über Sirupkochen Bescheid: über den Geruch, den die vorgekochten Rübenschnitzel abgeben und der wochenlang in Schwaden über Frahms Hof zog, widerlich. Deshalb, Lenka, hat es bei uns niemals Sirupbrote gegeben, was gewiß undankbar und ungerecht ist. Nelly hat keine höhere Eßfreude kennengelernt als die, den ersten Löffel dunkelbraunroten Sirups zähflüssig über das Vollkornbrot fließen zu sehen, das Frahms selber buken und das mit gewöhnlichen Messernnicht zu schneiden war. (Zu schweigen, daß es später dieser Sirup gewesen ist – von dem heimgekehrten Vater zu Nelly ins Lungensanatorium gebracht, von ihr nachmittags tassenweis gelöffelt, der die Heilung des Infiltrats in ihrem rechten Lungenflügel beschleunigte: Sirup, und nicht, worauf andere Kranke schworen, Dachsfett oder der eigene Urin).
    Andere Bilder: Die Mutter, Charlotte, die nun so dürr ist, wie sie werden kann, Haut und Knochen. Ihr fällt es zu, nach Nahrungsmitteln über Land zu laufen. Sie bindet sich ihren schweren, braunen, aus einer Decke gefertigten Rock mit einem Stück Hanfschnur um die Taille, legt sich mehrere Lagen Zeitungspapier in die ausgetretenen Schuhe, stülpt gegen den Regen einen sauberen Sack über den Kopf, wie die Müllersknechte. So läuft sie furchtlos die unsicheren Wege, stundenlang, und wenn sie wiederkommt, oft im Dunkeln, setzt sie einen Beutel Mehl auf den Tisch, ein kleines Stückchen Butter, ein winziges Klümpchen Schmalz. Wie sie es nur macht, Charlotte. Ja: Wo du nicht bist, Herr Jesu Christ, da schweigen alle Flöten! – Das war nun wieder ihr verfluchter Hochmut, den Tante Liesbeth nicht aushält. Sie gibt spitze Widerworte. Wie es weitergeht, weiß man: Streit. Die Pellkartoffeln in der Einheitssoße zwei (fettarm) werden in vollkommenem Schweigen beim trüben Schein eines Hindenburglichtes verzehrt, düster und wortlos und immer noch bei Stromsperre wird im Flur, den Nellys Familie als Küche nutzt,

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