Kindheitsmuster
Gedichten, die sie heimlich schrieb, »Glück« nannte. – Du hast dir von der jungen Frau Frahm die winzige Bodenkammer zeigen lassen, in der Nelly mit den zwölf Frauen des Hauses in jener Nacht hockte, während in dem Schrank, den man vor die dünne Tür gerückt hatte, gewühlt wurde und schwere Schritte und Flüche in der fremden Sprache aus dem Nebenraum kamen. Die Kammer ist jetzt unbenutzt, auch das Feldbett steht nicht mehr darin. Alles ist hell, nüchtern, sauber. Du sahst es ohne Gemütsbewegung an.
Eines Morgens – am Morgen nach dieser Nacht – waren die einzigen Kleidungsstücke, die Nelly besaß, Schlafanzug und Mantel. Sie stand vor Frahms Haus, eine Decke um die Schultern gelegt, und sah die Sonne aufgehn. Es war ihr unbeschreiblich wohl. (Das Wohlsein, das man in extremen Zuständen empfindet.) Redensarten wie »das nackte Leben« kamen ihr nicht in den Sinn. Später verstand sie, was damit gemeint ist.
Es ist die Wahrheit: Mit einem kleinen Gefühl von Enttäuschung nahm sie ein paar Tage später einen Teil ihrer Kleider wieder zurück. Charlotte Jordan wurde aufgefordert, zur sowjetischen Kommandantur in die Kreisstadt zu kommen. Dort gab es einen Raum, der einem Warenlager glich, nur daß keine neuen Waren darin gestapelt waren. Es sei ihr, sagte Charlotte, ungemein peinlich gewesen, wie die anderen Weiber sich gleich auf die Sachen gestürzt hätten. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Da sah sie in einer Ecke ihren alten abgeschabten Koffer stehen. Aus einem Berg von Kleidungsstücken zog sie Nellys Trainingsanzug hervor, der allerdings unersetzlich war, und ein paar Decken. Die Aufforderung des jungen Soldaten an der Tür, sich mehr zu nehmen, lehnte sie ab. Im Flur hatte eine Reihe von Männern in sowjetischen Uniformen Aufstellung genommen. Ein Dolmetscher im Offiziersrang – höflich, aber kühl, sagte Charlotte; jedenfalls ein gebildeter Mensch – forderte die Frauen auf, zu prüfen, ob sie einen dieser Männer von den nächtlichen Überfällen her erkannten.
Charlotte erkannte zweifelsfrei den langen Schwarzen mit der hohen Fellmütze, der auf ihrer Schwelle stand, als sie »Typhus« brüllte. Unbegreiflicherweise hat sie ihn nicht angezeigt. Er habe so einen verzweifelten Blick gehabt. Er habe ihr leid getan.
Onkel Alfons Radde faßte sich an den Kopf. Du kannst einem leid tun, sagte er zu seiner Schwägerin.
Es gab nichts mehr, worüber sie nicht in Streit gerieten.
Erinnerte sich Lutz noch jener Beleidigung, die Alfons Radde eines Tages – es war vor Frahms Haus – gegendie Großmutter, Schnäuzchen-Oma, ausgestoßen hat? Lutz weiß nicht, was du meinst. Nun: Er hat sie »Pollackenweib« genannt. Aus welchem Anlaß, ist dir entfallen. Pollackenweib. Eine tödliche Beleidigung, gegen die Nelly Schnäuzchen-Oma sofort in Schutz nahm. (Ich lasse mir meine Großmutter nicht von dir beleidigen! In der Art. Darauf als Antwort denkbar: Du? Du werd erst mal trocken hinter den Ohren!) Der Genuß, endlich unverhohlen zu hassen.
Diese Erinnerung war kurz vor Kostrzyn aufgekommen, nachdem Lenka erklärt hatte, die Polen seien ihr sympathisch. Inwiefern? fragtet ihr, Lutz und du (H. konzentrierte sich bei der Hitze auf das Fahren). Sie seien lebendiger, fand Lenka. Spontaner. Sie gebrauchten anscheinend Ordnung, Sauberkeit, Disziplin nicht als Waffen gegeneinander. Wie wir.
Wie wir?
Ja. Sie versuchen wohl nicht, sich gegenseitig durch Leistung totzumachen.
Ich weiß ja nicht, sagte Lutz zu seiner Nichte, was du mit totmachen meinst. Aber, sagte er, wenn sie ihren Lebensstandard erhöhen wollen, werden sie nicht umhinkommen, die Leistung als Wert anzuerkennen. Ich glaub’s jedenfalls nicht.
Was glaubst du überhaupt? fragte Lenka. (Damals muß ihr an Glaubensbekenntnissen gelegen haben.)
Ist das ein Thema bei fast vierzig Grad Celsius?
Sag schon.
Ich glaube, sagte Lutz, nur mal als Beispiel: Unter Berücksichtigung bestimmter physikalischer Gesetze, bei Beachtung des Verhaltens bestimmter Materialien unter festgelegten Belastungen kann man eine Maschinekonstruieren, deren Wirkungsweise voraussagbar ist.
Das hab ich mir gedacht, sagte Lenka.
H. beteiligte sich niemals an derartigen Umfragen. Lenka hielt sich also an dich. Zuerst die üblichen Ausweichmanöver: Wie sie darauf komme und so weiter. – Spielt doch keine Violine, sagte sie.
Du bringst deine Mutter in Verlegenheit, sagte H. Kleiner Hinweis am Rande.
Wieso eigentlich?
Weil die Glaubensinhalte generationsgebunden
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