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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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wann? Und wodurch? Sie schien sich selbst nicht mehr zu kennen. Sie hatte einen Ekel vor diesem mit Wachstuch bedeckten alten Sofa, auf das sich wie am Fließband eine Frau nach der anderen legte. Sie wußte nicht, wohin mit ihrer Wut.
    Da sie bei Steguweits als Hausmädchen blieb – ohne Gehalt, nur für das Essen –, fand sie beim Ausfegen unter den Ehebetten von Rosemarie Steguweit und ihrem vermißten Mann einen Karton Bücher, darunter manche, die sie in der Schulbibliothek bei Julia Strauch ausgeliehen hatte. Alle übrigen Hausbewohner – auch der ehemalige Bürgermeister, den der Entzug seines Amts schlagartig gesund gemacht hatte – waren in der Kartoffelernte. Nelly gab den Kindern Edeltraut und Dietmar Spielzeug und setzte sich selbst in den Sessel, der einst Besuchersessel in der Amtsstube gewesen war, um stundenlang, ganze Vormittage lang zu lesen. Noch einmal las sie »Die Wagenburg« von Friedrich Griese, las »Opfergang« von Rudolf Binding, »Der Arzt Gion« von Hans Carossa und glaubte zu leiden, während sie las. Jetzt erst – zu verwundern ist es nicht – stellte sich jene Art von Schmerz ein, den du »Phantomschmerz« nennen würdest und den Amputierte in dem Glied, das sie verloren haben, zu empfinden pflegen. Es schmerzte sie heftig, was sie nicht mehr hatte und nicht mehr war. Die Bücher lieferten ihr das Gift des Selbstmitleids.
    (Interviewfrage: Glauben Sie an die Wirkung von Literatur?– Gewiß, doch wahrscheinlich anders als Sie. Ich glaube, daß jener Apparat, der die Aufnahme und Verarbeitung von Wirklichkeit zu tätigen hat, von Literatur geformt wird; bei Nelly war er – sie wußte es nicht – schwer beschädigt. – Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind? Eine der Antworten wäre eine Liste mit Buchtiteln.)
    Angst beschreibt merkwürdige Bögen. Sie zieht sich zurück, wenn man sie benennt, und tritt stark hervor bei jedem Versuch, ihr auszuweichen. In allergrößter Angst erzählt man heitere Geschichten, die den Druck über dem Magen – eine genau umschriebene Stelle – nicht auflösen können. Vergiftet von Angst, deren Ursprung du nicht nennen kannst (eine Unfähigkeit, die dich von jeder Anteilnahme ausschließt), träumst du nachts, du lägest in einer abgründigen Höhle, von deren Felswänden es tropft, auf einer Pritsche, bis man dir nach längerer Zeit die Erlaubnis gibt, deine Wohnung wieder zu beziehen. Du stehst vor einer Tür, die du vorher niemals gesehen hast, aber untrüglich als die deine ausmachst. Auf dein Klingeln öffnet ein feiner, gepflegter, weißhaariger Mann, in dem du sofort »Felix Dahn« erkennst (den »Kampf um Rom« muß Nelly in jenen Jahren gelesen haben). Du wirfst einen Blick durch die offene Tür: Dieser Mann bewohnt deine Wohnung. Deinen Anspruch weist er mit einem feinen, erstaunten Lächeln zurück. Allerhöchstens könnte er sich vorstellen, daß du eine ganz gleiche Wohnung in einem womöglich ganz gleichen Nebenhaus innehättest. Du steht vor deiner Tür und mußt einsehen: Du wirst niemals beweisen können, daß es die deine ist. Es gibt keine Aussicht für dich, je nach Haus zu kommen.
    Der Verzweiflung nicht achtend, mit der du erwachst, entschließt du dich, vorerst bei den lustigen Geschichten zu bleiben, bei den Gauner-und Bubenstückchen, an denen unkontrollierte Zeiten reich sind. Man könnte ja immer so weitererzählen. (Wann ihr angefangen habt, über diese Geschichten zu lachen, ist eine andere Frage, eine interessante ästhetische Frage: Ein und dasselbe Material wechselt sein Genre, je nachdem, ob die Leute, die es erzählen und denen es erzählt wird, imstande sind, es traurig oder lustig zu finden.) Fritz Wussagks, des Roten Kommandanten, Hochzeit spaltete die Bevölkerung der fünf Dörfer, die ihm tributpflichtig waren, in zwei Lager: in die wütenden Bauern und die lachenden Flüchtlinge. Denn die Bauern waren es, die das Festmahl zu bestreiten hatten, und das nicht zu knapp, wie Charlotte schadenfroh sagte. Zur Vorbereitung dieses Mahles lief unter den Augen der Besatzungsmacht, aber ohne ihr Wissen eine Ablieferungsaktion landwirtschaftlicher Produkte in größerem Stil an. Fritz Wussagks Braut war ein blasses Flüchtlingsmädchen aus Barkhusen, an dem es drei Auffälligkeiten gab: farbloses krauses Haar, zwei kreisrunde rote Flecken auf den Backenknochen und eine piepsige Stimme. Sie hieß Ilse Wiedehopf, und Wussagk nannte sie in aller Öffentlichkeit »Ilsie«. Die Trauung dieser beiden war die letzte

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