Kindheitsmuster
erscheint.
Frahms waren ja die einzigen, die sich beim Anbruch des Winters bereit zeigten, noch Flüchtlinge aufzunehmen, zum Beispiel solche, die den Sommer über in einer Scheune lagen, den Unbilden der Witterung ausgesetzt. Freiwillig zog man nicht gerne zu Frahms, das Haus stand zu einsam: zwei Kilometer vom Dorf, zwei Kilometer von der Schwarzen Mühle entfernt, am Schnittpunkt zweier Feldwege, unweit vom Waldrand. Auf die landschaftlich schöne Lage kam es aber nicht an. Es wäre auf eine sichere Lage angekommen. (Es ist nicht zu glauben, daß heute in Frahms Haus nicht mehr als vier, fünf Personen wohnen. Die junge Frau Frahm ist mit ihrem Sohn allein, als ihr kommt. Sie ist die einzige, die ihr nicht von früher her kennt. Sie hat Werner geheiratet, der für die Pflanzenproduktion der LPG verantwortlichist. Sie führt euch durch das Haus und muß lachen, wie du aus der Erinnerung in jedem Zimmer eine ganze Familie einquartierst.)
Es zeigt sich: Auch Lutz hat den Belegungsplan von Frahms Haus im Kopf. (Bei eurem Besuch 74 sitzt ihr mit der jungen Frau Frahm in genau dem Zimmer, in dem damals Nellys Familie gewohnt hat. Es ist heute ein modernes Wohnzimmer, wie in jeder Stadtwohnung auch. Als die junge Frau hinausgeht, um die alten Fotoalben zu holen, zeigst du H., wo der große Holztisch stand, um den die Familie sich zum Essen setzte, wo der alte Kachelofen, wo die Betten waren. Die neue Einrichtung irritierte dich und überdeckte deine Erinnerung. Du mußtest die Augen schließen, dann sahst du wieder deutlich den dürftigen Raum, den zerschlissenen Sessel, den Nelly sich ans Fenster rückte, um die drei Föhren auf der anderen Straßenseite anzusehen, die ihr mehr Eindruck machten als alle anderen Bäume vorher. Es schien dir unglaublich, daß sie gefällt sein sollten; du hattest sie H. als untrügliches Erkennungszeichen für die Lage des Hauses geschildert. Sie sind abgeholzt, weil sie eine Gefahr für die Überlandstromleitung darstellten, sagte die junge Frau Frahm).
Lenka behauptet, man könne sich doch nicht sechsundzwanzig Jahre lang die Namen von achtundzwanzig Menschen merken, mit denen man mal zusammen in einem Haus gewohnt hat. (Ihr wart bei der Zusammenrechnung der Bewohner der Arche auf die Zahl achtundzwanzig gekommen.) Ach! sagtet ihr. Nicht nur die Namen! Man sieht sie alle noch vor sich, jeden einzelnen. Sie kamen aus Mecklenburg, Brandenburg, Pommern, Schlesien, Westpreußen, Berlin. Die wirrhaarigeausgemergelte Frau Mackowski, die mit ihren fünf Kindern und ihrem invaliden Mann in der Stube neben Jordans wohnte, nur durch eine dünne Tür von ihnen getrennt, schimpfte auf polnisch, wenn sie nachts auf den Flur trat, um Fräulein Tälchen zu verwünschen – Lydia Tälchen, die in ihrem einzigen Zimmer, das sie mit ihrem unschuldigen Sohn Kläuschen teilte, wechselnden Männerbesuch empfing, und zwar so unorganisiert, daß häufig ein Besucher dem anderen ins Gehege kam und alle zusammen dem Heinz Kastor in die Quere liefen, der in der Kammer über dem Pferdestall wohnte und sich für Lydia Tälchens festen Freund hielt. Es gab also handgreifliche Auseinandersetzungen, nachts, bei den dünnen Wänden und in Gegenwart aller Kinder, besonders der Kinder des Schusters Mackowski, ein hinkender kranker Mann, der sich still verhielt und Genüge daran fand, daß er imstande war, seine Frau zu ertragen und fast jeden Schaden zu reparieren, der in dem weitläufigen Haus auftreten konnte.
Ein Sicherheitsrisiko wurde Lydia Tälchen erst später, in den dunklen Winternächten, wenn es darauf angekommen wäre, Tür und Tor zuverlässig zu verrammeln und sie niemals – auch nicht einem Liebhaber als Ausschlupf – zu öffnen. Vorher aber mußte in der Waschküche noch Rübensirup gekocht werden, der KZler Ernst, ein Berliner, der mit seinem deutschen Schäferhund namens Harro im Giebelzimmer wohnte und ein Meister aller Finten war, hatte eine Kuh zu schlachten, Weihnachten mußte von allen gemeinsam in Frahms Wohnstube gefeiert werden, eine Gelegenheit für jeden, mit einem Beitrag zur Unterhaltung hervorzutreten. Irene, die zweiundzwanzigjährige Tochterdes Lehrers Ludwig Zabel aus Glogau in Schlesien, sang also, wie sie es auch sonst oft tat, »Alle Tage ist kein Sonntag«, und jeder wußte, daß sie an ihren Verlobten Arno dachte, der im Westen vermißt war und dem sie in beispielhafter Liebe und Treue anhing, und sie sang auch die letzte Strophe: »Und wenn ich einst tot bin, sollst du
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