Kindheitsmuster
das Geschirr abgewaschen, stumm und erbittert zieht ein jeder sich auf sein Lager zurück: die Jordans mit Schnäuzchen-Oma in jene Bodenkammer, in deren Mitte der Eimer steht, den jeder, da ihre Nahrung hauptsächlich angefroreneKartoffeln sind, mindestens dreimal in der Nacht aufsuchen muß.
Bruder Lutz kennt, man kann ihn fragen (und du fragst ihn, am Telefon; er lacht: Das willst du schreiben?), die Kuhgeschichte in allen ihren verwickelten Einzelheiten, wie sie nur ein Mensch vom Format des KZlers Ernst planen und durchführen konnte: ein Mensch wie aus einem Schelmenroman entsprungen. Er hatte unten in seinem Spind seine KZ-Lumpen verstaut, aber er sagte niemandem, wann, wo und warum er im Lager war. Er fand, Traurigkeit half der Menschheit nicht weiter, und Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen. Er lief mit seinem Hund Harro ins Nachbardorf. Dort sollte einem Gerücht zufolge einem Bauern ein herrenloser Ochse zugelaufen sein. Ernst konnte dem mißtrauischen Bauern einreden, das Tier gehöre ihm. Zurückgekehrt, brachte er den Bauern Frahm, der krumme Touren sonst ablehnte, dazu, ihm Futter für vier Tage zu geben, mit dem er »seinen« Ochsen auslösen konnte. Diesen nun wieder, ein erbarmungswürdig klapperdürres Vieh, gab Bauer Frahm auf sein Soll ab, wofür er ein gut genährtes Kalb, eigentlich zur Ablieferung bestimmt, Herrn Ernst überließ, der es unverzüglich notschlachtete und ein Festessen für alle Bewohner der Arche gab. Jeder hatte ein riesiges Stück Fleisch auf seinem Teller. Frahms große Küche faßte die Leute kaum, Mackowskis Kinder, deren ungekämmte Schöpfe zweifellos die Brutstätte für die im Haus umgehende Läuseplage waren, wurden milde geduldet, und auf dem Höhepunkt der Stimmung erhob sich der ernsthafte Lehrer Ludwig Zabel aus Glogau in Schlesien, ein Kalbsbein in der Hand, und schmetterte: »Trinke, Liebchen,trinke schnell, trinken macht die Augen hell!« – Dann stießen sie mit Kalbsknochen an auf das Kalb, das aus unerklärlichen Gründen »Melusine« geheißen hatte. Bauer Frahm und seine Frau saßen am Kopfende der Tafel und aßen vergnügt von ihrem eigenen Kalb. Nelly merkte, daß man auch vom Essen betrunken werden kann.
März fünfundsiebzig. Nachts hochschrecken, wenn die abflachende Schlafkurve von der steil ansteigenden Kurve der Angst geschnitten wird. Eine, neuerdings zwei Schlaftabletten öffnen die Klammer für vier, fünf Stunden. Grundlos, wie du zugibst. Grundlose Angst. Verräterisch der Doppelsinn der Wörter. Undurchschaute Abläufe. Hilfserklärungen.
Bei dem Versuch, Unberührtes zu berühren – Ungesagtes auszusprechen –, wird Angst »frei«. Die freie Angst macht den von ihr Befallenen unfrei. Eine Uhr, die sich selbst aufzuziehen scheint und so laut tickt, daß der Wunsch gerechtfertigt ist, sie mitten am Tag, mitten in der Arbeitszeit zu übertönen, mit Musik. Johann Christian Bach, Sinfonie g-Moll, op. 6. (»Der tragische Zug, der dieses Werk beherrscht ...«) Achtzehntes Jahrhundert, sechziger Jahre. – »Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren.« Paul Fleming. Siebzehntes Jahrhundert. Angstreiche Zeiten. (»... das persönliche Bekenntnis eines klassenbewußten Bürgerlichen zu nationalem Denken und Fühlen ...«) Anrufung der Schutzheiligen, im Bewußtsein von Mogelei: Sie zuständig zu machen für Ängste, die ihnen unbekannt gewesen sind. (»Sein Unglück und sein Glücke / ist ihm ein jeder selbst.« Tapferer, glücklicher, gläubiger Mann.)
Die Musik tut, was sie tun soll. Die Fragen lassen sich ruhiger stellen. Nämlich: Handelt es sich um die banale Angst vor den Folgen von Tabuberührungen, um Feigheit also, die durch einen moralischen Akt zu überwinden wäre? (Frage aus dem Publikum: Und warum schreiben Sie nicht lieber über die Gegenwart? – Gegenfrage: Was ist »Gegenwart«? Verlegenes Lachen.) Oder ist es die Grundangst davor, zuviel zu erfahren und in eine Zone von Nichtübereinstimmung gedrängt zu werden, deren Klima ihr nicht zu ertragen gelernt habt? Eine Angst von weit her also und von klein auf, vor Selbstverrat und Schuld. Unselige Hinterlassenschaft.
Nachts, in der schimmernden Dunkelheit, von der Einsicht getroffen werden, daß die Notwendigkeit, sich auszuliefern, und die Unmöglichkeit, es zu tun, einander die Waage halten. (Das, was man scheitern nennt?) Gegenstandslos die alltägliche Versuchung, ins Unerhebliche auszuweichen.
Wie würdest du schreiben in der Gewißheit, daß du in zwei
Weitere Kostenlose Bücher