Kindheitsmuster
Amtshandlung des Bürgermeisters und Standesbeamten Richard Steguweit, den Nelly aus diesem Anlaß zum einzigen Mal in einem weißen Hemd, einer dicken schwarzen Tuchjacke und mit schwarzem Schlips sah. Von allen schwitzenden Anwesenden schwitzte er am meisten.
Sind Sie, Fräulein Ilse Wiedehopf, bereit, Ihrem Verlobten,Herrn Fritz Wussagk, nach Ihrer Verehelichung eine allzeit treue Ehefrau zu sein? – Ja, piepste Ilsie. Ilsie war eine weiße Braut. Weiß und zu Tränen ergriffen. Aber das war zu erwarten gewesen. Viel unerwarteter kam es für Nelly, daß auch Franz, Wussagks Leibwächter, den Charlotte Jordan »verwogen« nannte (ein durch und durch verwogener Typ), in hemmungsloses Schluchzen ausbrach und daß Wussagk selber (»kalt wie Hundeschnauze«) den allergrößten Wert auf die feierliche Aufmachung der Amtshandlung und auf strikte Einhaltung aller Formalitäten legte. Es ging das Gerücht, daß er Frau Pfarrer Knop ein Kalb geboten hatte, wenn sie ihn kirchlich trauen würde (ein Kalb, gegen das sie zum Beispiel eine Altardecke eintauschen konnte, die aus der Kirche von Bardikow kürzlich gestohlen worden war). Frau Pfarrer aber verabscheute den Tanz ums Goldene Kalb und schützte zum erstenmal ihre fehlende Amtswürde vor.
Sie war ja dann später, »als der ganze Laden aufflog«, die einzige, die »Instinkt« bewiesen hatte.
Die Hochzeit des Roten Kommandanten, zu der an die hundert Gäste geladen waren, fand in einer ausgeräumten, frisch geweißten und von zehn Barkhusener Frauen geschrubbten Scheune statt. An jeglicher Art von Fleisch sei die Fülle gewesen, und der schwach verdünnte Sprit sei in Strömen geflossen. Auf dem Höhepunkt des Festes hätten die Damen sich durch gewisse Tänze (auf den Tischen!), die Herren sich durch ein Pistolenschießen auf leere Flaschen beweisen müssen. Der Wussagk mochte ein Erzgauner sein, aber Feste feiern, das hat er gekonnt. Das mußte der Neid ihm lassen. An der offenen Scheunentür drängelten sich die Kinderund Halbwüchsigen von Barkhusen, wurden großzügig verköstigt und kriegten einen starken Schuß Sehnsucht verpaßt nach dem, was sie für »Leben« hielten. Der Wussagk, der Mensch, der versteht zu leben.
Dann war er weg. Die Dramaturgie jener Jahre trat in Kraft: Das unvermutete Auftauchen von Personen, die ihn erkannten, den Mund nicht halten konnten, ein Gerücht in Umlauf setzten, das den neuen Behörden zu Ohren kam, führte zu seiner Entlarvung. Allerdings war er »vor dem Umbruch« in Haft gewesen, aber nicht aus politischen Gründen: Außer Ilsie Wiedehopf konnten noch zwei andere Frauen in verschiedenen deutschen Kleinstädten sich auf eine rechtmäßige Trauung mit ihm berufen. Er war also, wie Charlotte Jordan mit Befriedigung feststellte, ein gewöhnlicher Bigamist. Daß kein Mensch auf dieser weiten Gotteswelt den Wussagk zum Roten Kommandanten ernannt hatte, verstand sich am Rande. Leutnant Petja, der einen Wutanfall kriegte, als er die Zusammenhänge erfuhr, erschien mit dem Burschen Serjoscha beim Bürgermeister, um sich in allerstrengstem Ton zu erkundigen, warum man ihm vom Treiben des Wussagk nicht berichtet habe. Nelly sagte ihm die Wahrheit: Aus Angst, verstehn? Der Leutnant brüllte njet! und knallte beim Hinausgehen die Tür hinter sich zu.
Unergründlich, wie Menschen nun mal sind, rechneten die fünf Dörfer es Ilsie Wiedehopf hoch an, daß sie schwor, ihrem Manne die Treue zu halten. Einen Mann, soll sie gesagt haben, der einer Frau eine solche Hochzeit ausrichte – einen solchen Mann lasse man nicht im Stich. Durch und durch schlecht ist er nicht gewesen, sagte Charlotte. Sie hatte mit ihm lange Gesprächegeführt, hauptsächlich über mystische Themen, an denen der Rote Kommandant sehr interessiert war. Bei ihren Hamstergängen über Land hatte sie öfter seinen Schutz in Anspruch genommen: In seinem Bereich duldete er kein Banditentum. Wenn die anderen es einem Menschen so leicht machen, ein Strolch zu werden, meinte Charlotte, dann sollen sie sich nicht wundern, wenn er einer wird.
Unterwegs zwischen Witnica und Kostrzyn – am Sonntag, dem 11. Juli 1971 (ein Datum, das jetzt, im März 1975, schon so weit zurückliegt, daß es dich entmutigt) –, mittags, auf der Fahrt durch die jetzt menschenleeren Dörfer, fragst du Bruder Lutz, wann ihr eigentlich angefangen habt, Frahms Haus »die Arche« zu nennen. Lutz weiß nichts davon. Er hat Frahms Haus niemals die Arche genannt. Obwohl ihm dieser Name sehr passend
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