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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Jahren stirbst?
    Die Antwort ist nicht dazu angetan, dich zu beruhigen.
    Gibt es nur die Alternative zwischen Schweigen und dem, was Ruth und Lenka »Pseudo« nennen (falsch, unecht, unaufrichtig, unwahr)? Du bestreitest es dir, nachts. Du stellst dir vor: Aufrichtigkeit nicht als einmaliger Kraftakt, sondern als Ziel, als Prozeß mit Möglichkeiten der Annäherung, in kleinen Schritten, die auf einen noch unbekannten Boden führen, von dem aus auf neue, heute noch unvorstellbare Weise wieder leichter und freier zu reden wäre, offen und nüchtern überdas, was ist; also auch über das, was war. Wo die verheerende Gewohnheit von die abfiele, nicht genau zu sagen, was du denkst, nicht genau zu denken, was du fühlst und wirklich meinst. Und dir selber nicht zu glauben, was du gesehen hast. Wo die Pseudohandlungen, Pseudoreden, die dich aushöhlen, unnötig würden und an ihre Stelle die Anstrengung träte, genau zu sein ... (»Was du noch hoffen kannst, / das wird noch stets geboren.«)
    Wie doch die Angst zurückweicht, wenn man nur anfängt, daran zu denken. Wie die böse Ahnung, daß es dir bald die Rede verschlagen wird, sich auflöst und dafür Lust entsteht. Lust zu reden und, wo möglich und nötig, auch zu schweigen.
    Über verschiedene Arten von Angst.
    In der Nacht nach dem Gastmahl mit dem Kalb Melusine ließ Lydia Tälchen – es ging schon auf Morgen zu – einen ihrer Geliebten zur Giebeltür hinaus. Es handelte sich um den leicht hinkenden Sohn des Großbauern Voß, der zwar Frau Tälchen ein Ei und ein Schlückchen Milch bringen konnte – im Gegensatz zu Heinz Kastor, der schwer betrunken und ganz mittellos im Giebelzimmer bei Herrn Ernst schlief –, nicht aber in der Lage war, sie gegen physische Gewalt zu verteidigen. Jedenfalls war es weder ihm noch der zarten Lydia möglich, die halboffene Tür, gegen die von außen kräftig gedrückt wurde, wieder zuzukriegen. Russische Laute, die auch die Familie Frahm aus dem Schlaf rissen. Es handelte sich um vier sowjetische Soldaten, die in ihrer Sprache der zitternden Lydia Befehle erteilten und sich untereinander halblaut verständigten. Bei diesem ersten Mal ging es schnell: Lydia, des Russischenunkundig, verstand gleich, was verlangt wurde, öffnete eilig die Tür zur Räucherkammer, jeder der vier packte an Schinken und Würsten, was er tragen konnte, und ehe Frahms noch auf waren, ehe Charlotte und Nelly Jordan aus ihrer Bodenkammer nach unten kamen, war alles vorbei. Zu hören war noch das Geräusch eines Pferdewagens, der wild angetrieben wurde und sich rasch in der Dunkelheit entfernte.
    Heinz Kastor erschien und schlug Lydia grün und blau. Da mischte sich keiner ein. Ein Denkzettel konnte nicht schaden.
    Am nächsten Morgen verständigte Frahm selbst den Leutnant Pjotr, den Kommandanten von Bardikow. Nachmittags saß er in der Küche, Frau Frahm setzte ihm Streuselkuchen vor, er sprach lange und manchmal sehr zornig, und Serjoscha übersetzte lakonisch: Kommandant sagt: Nicht gut. Banditen. Tür zuschließen. Kommandant rufen.
    Das Haus lag ungünstig. In den Wäldern gab es, wie man hörte, Unterschlüpfe für Gruppen von Soldaten, die sich von der regulären Truppe entfernt hatten. Die meisten der vierzehn Überfälle, die in den nächsten anderthalb Jahren auf Frahms Gehöft verübt wurden, waren folgenschwerer als der erste: Eine ausgedehnte Lehrzeit in Angst. Einzelheiten sind in den beteiligten Familien als Legende überliefert: Wie Charlotte einmal, als sie nachts im Haus die jungen Frauen schreien hörte, auf ihrer Türschwelle eine Flasche Lysol auskippte und dem Einlaß fordernden Soldaten entgegenrief: Typhus! Ein Wort, das in jeder Sprache verstanden wird und wie ein Bannfluch wirkt. Niemand betrat für diesmal das Zimmer, bis auf Herta, Frahms Magd, die neben derTür zu Boden fiel: Frau Jordan, was haben sie mit mir gemacht.
    Leutnant Pjotr ließ die Telefonleitung zwischen Frahms Gehöft und dem Dorf in Ordnung bringen. Im Wohnzimmer stand nun ein Feldtelefon mit direkter Verbindung zur Kommandantur. Zweimal vertrieb der Kommandant, der in wildem Ritt, in die Luft schießend, von Bardikow herüberkam, die Plünderer, ohne sie zu fassen. Beim drittenmal versagte das Telefon: Die Leitung war unterbrochen worden. In der Nacht begriff Nelly, daß man nie glauben soll, man habe ein Gefühl bis zu seiner höchsten Stufe erlebt: Die Angst nicht, also auch nicht die Freude oder die Verzweiflung oder das, was sie damals in den wenigen

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