Kindheitsmuster
Apokalypse fehlt ... (Paul Fleming, »An sich«: »Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren, / Nimm dein Verhängnis an, laß alles unbereut.« Rührung, aber kein Neid auf Vorfahren, denen ein neuzeitliches Erlebnis fehlt: Sich selbst nicht annehmen können; nicht wissen, was das heißen soll: »An sich«.) »In den Himmeln derSelbstverleugnung«, steht in einem Brief, sei die Angst unbekannt. Allerdings auch die Liebe. So wäre die Angst als Wächter gesetzt vor die Höllen der Selbsterfahrung?
(Nachricht: Große Offensive der Streitkräfte Nordvietnams, die jetzt den Norden Südvietnams besetzt halten.)
Spätnachmittag. Fahrt in die Bezirksstadt, auf der neuen Straße. Der Horizont linker Hand ist blutrot, davor die Stadtsilhouette, kahles Astwerk, Türmchen. »In dieser Beleuchtung ist jede Landschaft schön.« Du weißt es, empfindest es nicht. In deinem Kopf rennen immer die gleichen Gedanken. Vielleicht, sagst du, ist es die Angst, sich selbst zu zerreißen, wenn man sich von der Rolle lösen muß, die mit einem verwachsen war. – Gibt es eine Alternative? – Nein, sagst du. Und doch ist es eine Wahl. (Soll das Gefühl der Echtheit nur noch durch Angst zu erkaufen sein, die echt ist, keinen Zweifel an sich aufkommen läßt)?
Warum, sagt H., müssen wir immer denken, wir hätten alles in der Hand? Uns vernichtet fühlen, wenn wir merken, es ist nicht so?
Der dunklere, immer noch rote Horizont euch im Rücken, vor euch der Vollmond, kaltes Licht über der Stadt. – Nachts träumst du, daß du an H. eine Postkarte schreibst, deren Text du nach dem Erwachen Wort für Wort von einem Film in deinem Kopf ablesen kannst. Lieber H., hast du geschrieben, jetzt bin ich nicht mehr der alte Adam, sondern ein neuer. Jetzt ist alles von mir abgefallen. Dein alter Adam.
Ihr lacht, daß Angst, wenn sie sich verabschiedet, auch Humor beweisen kann. Es war der erste Tag, andem man den Frühling roch. »Und in dem Abgrund liegt die Wahrheit«, sagte H. ironisch. Weißt du, wer das gesagt hat? Du glaubst es nicht: Friedrich Schiller.
18
Die Zeit läuft. Wir leben nicht oft wirklich.
Irgend etwas in dir behauptet, daß diese beiden Sätze – von denen der eine auch der Ausruf eines Radiosprechers bei einer Sportspartakiade, der andere die Klage eines Hypochonders sein könnte – zusammengehören. Der verschiedene Stoff, aus dem Sätze gemacht sind. Der verschiedene Stoff der Zeiten.
Es ist dahin gekommen, daß du dich konzentrieren mußt, um dich an den Fernsehfilm von gestern abend zu erinnern. Blaß, blaß. Dagegen: gestochen scharf Steguweits Küche, der Herd, an dem Nelly die landesübliche Mehlsuppe rührt – ohne Zucker und ohne Salz –, die gußeiserne Pfanne, in der sie Bratkartoffeln braten lernt, ohne daß die Zwiebeln anbrennen müssen. Jetzt notierst du dir schon den Ablauf der Tage, manchmal sogar das Wetter und seine Umschläge, in der Hoffnung, aus der Notiz: »Viel zu kühl, aber manchmal sonnig« werde sich später einmal ein Lebensfeld erschließen. Wann, das denkst du nicht mit. Wenn »Zeit« sein wird, sich zu erinnern, was heißt: ungelebtes Leben nachzuleben, oder »aufzuleben«. Wie man alte Sachen aufträgt, einen Aktenberg aufarbeitet. (Der Wetterrückschlag in diesem Frühjahr 75, nach einem Winter, der wieder einmal keiner war; der Stimmungsrückschlag; der Rückschlag in der Grippewelle, auch jüngere Leute sollen an Kreislaufversagen gestorben sein.)
Dein Verdacht ist: Wir leben in einer schneller verderblichen Zeit, in einer Zeit aus anderem Stoff als jene haltbaren früheren Zeiten. (Wegwerf-Zeit.) Die verschiedenenZeiten, die verschieden schnell fließen. Die Gegenwartszeit, die sich zu dehnen scheint, die nach Minuten gemessen wird (»Der Kampf um jede Minute«), deren Stunden sich schleppen, deren Jahre aber fliegen und das Leben im Fluge mitnehmen. Dagegen die Vergangenheitszeit, kompakt, heftig, konzentriert, wie zu Zeit-Barren eingeschmolzen. Sie läßt sich beschreiben. Die nackte, bloße Alltags-Zeit der Gegenwart läßt sich nicht beschreiben, nur ausfüllen.
Es ist ja menschenunmöglich, sagen die Leute, daß man jeden Krieg auf der Welt innerlich mitmacht. (Im Vorfeld von Saigon schlagen die Raketen der FNL ein.) Wenn sie ihre Importschuhe gekauft haben (wenn wir unsere Importschuhe gekauft haben), steht neben der Kasse ein Behälter, manchmal durchsichtig, meist halbvoll, auch größere Scheine: Solidarität mit Vietnam, mit Angela Davis, mit Chile. Das Denken
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