Kindheitsmuster
– meist zwischen eins und zwei, wenn es am dunkelsten ist – ein Fuhrwerk näher kommen. Er gibt ein lautes Signal auf seiner Trillerpfeife und verkriecht sich in einem vorbereiteten Versteck. Die Frau, die drinnen Telefonwache hat, reißt die Wohnzimmertür auf und brüllt aus Leibeskräften: Alarm!, um das Haus zu wecken. Danach stürzt sie zurück zum Telefon und informiert die Kommandantur. Alle Einwohner der Arche, die in den unteren Stockwerken geschlafen haben, begeben sich im Dunkeln schnell und leise in das obere Stockwerk, wo sämtliches Gepäck jeden Abend deponiert wird. Nelly ist dafür verantwortlich, daß alle Hausbewohner oben sind, ehe die Falltür geschlossen wird. Sie gibt Onkel Alfons und Lehrer Zabel das Kommando: Tür schließen. Die Falltür fällt, der Schlüssel wird zweimal in dem schweren Eisenschloß gedreht, der Riegel vorgelegt.
Zugleich erfüllt ohrenbetäubender Lärm die Luft: Bruder Lutz nämlich betätigt vom Bodenfenster aus die Seile, welche die Klöppel an die Sauerstoffflaschen schlagen. Zwei Kilometer entfernt erwacht das ganze Dorf. Der Kommandant Pjotr schwingt sich, gefolgt von Serjoscha, aufs Pferd, verschießt, während er im Galopp näher kommt, ein Magazin aus seiner Maschinenpistole in die Luft und sitzt später schwitzend und fluchend in Frahms Küche.
Während du dies alles K. L. erzähltest – in dessen Wohnzimmer, in dem neben vielen anderen Fotos auch eines hängt, das ihn als Kapitän der sowjetischen Armee im Kriege zeigt –, hast du manchmal vor Lachennicht weitersprechen können. – Schreib das auf, schrie er, schreib das bloß auf!
Die Nächte nach den vereitelten Überfällen in Frahms Küche. Das schwarze, steinharte Brot. Das Messer, dessen Schneide hauchdünn geschliffen ist. In der Mitte des Tisches das Glas mit eingeweckter Leberwurst, deren Geschmack von keiner Wurst je wieder erreicht werden kann. Das Feuer im Herd. Heiße Suppe vom Vortag. Heißer Malzkaffee. Aufgeregtes Gespräch. Jeder muß jedem mitteilen, wie geistesgegenwärtig und zweckmäßig er sich verhalten hat. Der Mann vom Außendienst wird gefeiert. Lehrer Zabel zeichnet dem Leutnant Pjotr auf dem Küchentisch ihren Fluchtweg von Glogau aus auf, um festzustellen, ob und wo sie beinahe auf Pjotrs Einheit getroffen wären. Irene Zabel verliest den letzten Brief, den sie von Arno, ihrem Verlobten, bekommen hat: Er hat sich aus einem amerikanischen Gefangenenlager gemeldet! Mein liebes Mädel, so fängt er an, und Irene sagt: So hat er mich schon immer genannt. Im Hintergrund liegt Frahms Großmutter im Sterben. Gleich wird der Morgen kommen. Über den Ställen – die jetzt abgerissen sind, weil sie nicht mehr gebraucht werden – hebt sich immer schneller ein grauer Streifen. Bauer Frahm wird in die Hände schlagen und sagen: Also Kinnings, man wedder ran! Der Kommandant wird sagen: Rabota! und wird aufstehn und sich verabschieden. Dieser und jener – Nelly zum Beispiel, die ja schon »lungenkrank« ist und der ärztlicherseits eine Dauerliegekur verordnet wurde – legt sich noch einmal ins Bett.
Die Angst beschreibt merkwürdige und unberechenbare Kurven. Packt zu, läßt los. Angst als Zange.
Jetzt kann dir nur noch Selbstdisziplin helfen. Geregelte Tagesabläufe, strenge Arbeitszeiten. H., der deine Bemühungen um Distanz nicht glaubt. Nicht weiß, daß man, die Angst loszuwerden, fast jeden Preis zahlen würde. Das Problem liegt in dem »fast«, es ist dir klar. (Was, zum Beispiel, ist der Preis für Distanz?)
Was da vorgeht, möchte man wissen. Suche nach der zutreffenden Formulierung als eine der höchsten Befriedigungen. Tage, da sich jeder Ansatz zu Befriedigung in der Säure der Selbsterkenntnis zersetzt: Die Formulierung, ehe sie sich bildet, wird als verfälscht zurückgewiesen.
Pest, Hunger, Krieg, Tod: die altmodischen Apokalyptischen Reiter. Drei von ihnen kennst du, wenn man für die Pest eine andere Seuche, den Typhus, gelten läßt. (Der Nelly das Blut aus der Nase treibt, sie umwirft, auf ein Bett, das die Nacht durch schwankt, wie bei hohem Seegang. Der sie aus der Zeit wirft – Zeitlosigkeit als ein milchiger Fluß – in eine Region, in der keine Instanz, die sie bisher kannte, irgend etwas zu sagen hat. Sie überlebt die Nachricht von ihrem eigenen Tod, die die Mutter im Dorf drei Stunden lang in Schrecken versetzt. Als sie den Entschluß fassen kann, gesund zu werden, ist sie es. Angst hat sie nicht gehabt.)
Daß die Angst unter den Reitern der
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