Kindheitsmuster
erlaubt, sondern ausdrücklich gefördert wurde. Es hatte einen unanstößigen Namen,nach Herzenslust konnte man ihn aufsagen, sogar singen. Vor allem aber: Es war abbildbar. Eines Sonntagmorgens entdeckte Nelly, die in ihres Vaters Bett lag, das aufklappbare Herz in einem roten Heft der Reihe »Natur und Leben«, auf die Bruno Jordan abonniert war. Der Artikel, der daneben stand und die enorme Lebensleistung eines Herzens beschrieb, mußte ihr vorgelesen werden. Soviel begriff sie: Etwas war in ihr, das schlagen mußte, sonst war sie auf der Stelle tot. Der Vater führte ihr die Hand, bis sie das Pochen auf der linken Brustseite fühlte. Etwas ähnlich Großartiges und zugleich Schreckliches war ihr noch nicht vorgekommen. Sie ließ die Hand nicht mehr von der Stelle, und sofort leuchtete ihr ein – was der Artikel nebenbei bemerkte –, daß es Leute gab, die linksseitig nicht schlafen konnten, aus Furcht, ihr Herz einzuengen. Von Stund an gehörte Nelly zu diesen Leuten.
Soviel ist sicher. Ob sie aber wirklich zu ihres Vetters Manfred Tauffeier zugelassen war, bleibt ungewiß, denn die zahlreichen Bruchstücke verschiedener Familienfeiern, die das Gedächtnis bewahrt, lassen sich nur in seltenen Fällen einem bestimmten Anlaß zuordnen.
Wenn der man bloß durchkommt, sagte Charlotte Jordan, als sie am Sonnabendnachmittag von der Nottaufe kam, die der gefährliche Zustand des Säuglings, eines Siebenmonatskindes, nötig gemacht hatte, und ihren weißen Ladenmantel einfach über das schwarze Kleid mit den durchbrochenen Spitzenärmeln streifte, was nach Nellys Erinnerung noch niemals vorgekommen war. Zu gönnen wär’s der Liesbeth, nach all den Jahren. Sonst dreht sie durch, du, da kannst du Gift drauf nehmen.
Nach alldem ist sehr wahrscheinlich, daß Nelly ihre Teilnahme an der regulären Feier durchgesetzt hat, denn interessanter als der neugeborene Vetter Manfred konnte nichts sein. Du beschließt also: Sie durfte als einziges Kind an der Kaffeetafel in Tante Liesbeths engem Wohnzimmer Platz nehmen (alle Wohnzimmer, die Tante Liesbeth je bewohnt hat, waren eng und dunkel), nachdem sie von der Schlafzimmertür her einen Blick auf ein krebsrotes, verschrumpeltes Säuglingsgesicht hatte werfen können. Vetter Manfred, außer Gefahr dank Schwester Marias Aufopferung, die ihn teelöffelweis aufgefüttert hat, war und blieb zart, sehr zart, und einen Kontakt mit Keimen irgendwelcher Art vertrug er durchaus nicht. Verfrüht wäre es, jetzt schon zu beschreiben, was Tante Liesbeth Radde anstellen mußte, um ihren Entschluß zu verwirklichen, ihr Sohn sei ein zartes Kind, und wie sie es fertigbrachte, ihn unmündig zu halten. Doch der Eindruck soll nicht verschwiegen werden, der sich in Nelly festsetzte und mehr als alles andere zu beweisen scheint, daß sie dabei war: Einer Taufe haftet etwas Zweideutiges, Undurchschaubares, dumpf Trauriges, ja sogar leicht Unanständiges an.
Soviel steht fest: Tante Liesbeth hat gestrahlt und gesprüht – Tätigkeiten, oder besser: Zustände, die niemand, der sie später sah, ihr zugetraut hätte. Eine Abnahme an Strahl- und Sprühkraft setzte ein, die man rapide nennen kann und für die als Grund einen einzigen Namen zu nennen – Alfons Radde – doch nicht hinreichend sein mag. Seit kurzem ist der natürlich haltlose Verdacht aufgekommen, daß daneben versuchsweise ein anderer Name stehen könnte – wenn auch in ganz und gar anderem, sogar entgegengesetztem Sinn –,der des Doktor Leitner nämlich, der übrigens, als Tante Liesbeths Hausarzt, an der Familienfeier im engsten Kreis teilnehmen mußte und rechts neben die glückliche junge Mutter placiert wurde, während ihr Gatte, Onkel Alfons, natürlich links von ihr an der Stirnseite der Tafel saß. Ein Arrangement, das Charlotte Jordan (die die Flöhe husten hörte) gleich nicht ganz koscher vorgekommen war, obwohl sie da noch nicht wissen konnte, daß ihre Schwester Liesbeth die Teilnahme des Doktor Leitner gegen den ausdrücklichen Wunsch ihres Mannes durchgesetzt hatte. Dieser nämlich wollte die Feier des Sohnes dazu benutzen, sich seinem Chef, dem jungen Otto Bohnsack (Getreide und Futtermittel), und dessen Gattin Elfriede Bohnsack als Vater, Familienvorstand und Gastgeber zu präsentieren, mit Sammeltassen in der Glasvitrine und einer schlanken Sofapuppe in grün-schwarzem Seidenanzug, die auf der äußersten Ecke eines filetgestickten, hochgradig kunstvollen Kissens balancierte.
Diese Puppe grub sich in Nellys
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