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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Erinnerung ein, beweist aber nicht, daß die Tauffeier stattgefunden hat, sowenig wie der bemerkenswert gute Streuselkuchen, den Schnäuzchen-Oma zu allen Familienfeiern buk und dessen Butterstreuseldecke Nelly mit leichtem Hebeldruck des Teelöffelstiels vom Hefeteigboden zu lösen wußte, um am Ende mindestens zehn gehortete Streuselquadrate auf einmal essen zu können – eine Angewohnheit, die Charlotte Jordan auf die Frage brachte, ob ihre Tochter etwa ein Genußmensch sei.
    Angestrengtes Nachdenken darüber, wen sie nach der Bedeutung des rätselhaften Wortes »Siebenmonatskind« fragen könnte, ohne eine Abfuhr gewärtigen zumüssen, hat Nellys Aufmerksamkeit wohl teilweise von den Vorgängen dieses Nachmittags abgelenkt, die aus heutiger Sicht viel verwickelter gewesen sein müssen, als sie ihr damals erschienen. Charlotte Jordan jedenfalls, ihren späteren Andeutungen zufolge, muß alle Hände voll zu tun gehabt haben, damit alles »einigermaßen im Rahmen« blieb, so daß sie sich ausnahmsweise den Charakterfehlern ihrer Tochter kaum widmen konnte.
    Der Rahmen war der natürliche Anstand, den ein Mensch besitzt oder nicht besitzt. Jene Zigeunerin, die nach kurzem herrischen Klopfen eintrat, als man schon bei den Likören und Schnäpsen war, besaß ihn leider nicht im wünschbaren Maß; sooft sie sich nämlich in unterwürfiger Weise entschuldigen mochte, sie bestand doch darauf, einzutreten und sich den Kräuterschnaps, mit dem man sie an der Tür abspeisen wollte, erst zu verdienen. Wie das? Durch Weissagung aus den Handlinien der geschätzten Herrschaften.
    Das konnte ja nicht gut gehn. Charlottes dringliches Flüstern blieb ohne Eindruck auf die Zigeunerin (die natürlich – es ausdrücklich zu sagen ist wohl überflüssig – in Tante Emmys grünem Schultertuch und mit Tante Emmys Warze auf der Oberlippe auftrat). Daß dieses ganze Theater den Eltern des Täuflings bis zur Verzweiflung peinlich war, verstand Charlotte Jordan noch dreißig Jahre später, nachdem die schrecklichsten Auseinandersetzungen und das endgültige Zerwürfnis mit ihrer Schwester Liesbeth hinter ihr lagen und ihr Urteil über sie und ihren Mann nicht mehr von falscher Rücksichtnahme getrübt war. Man war schließlich nicht unter sich, Doktor Leitner war immerhin anwesend, ein wirklichvornehmer Mensch, und vor allem waren Bohnsacks doch noch gekommen, die dafür bekannt waren, daß sie keinen Spaß verstanden, und nach deren Händen dieses Monstrum von einer Zigeunerin natürlich zuallererst grapschen mußte. Sie war ja wenigstens höflich genug, den Bohnsacks Wohlstand und Reichtum weiszusagen – was sie übrigens beides besaßen; aber Kinder nicht, nein, keine Kinder. Und es hätte doch Tante Emmy nicht das Schwarze unterm Nagel gekostet, Frau Bohnsack Kinder zu prophezeien, es hätte deren Stimmung gehoben und auch Alfons Raddes Wut besänftigt.
    Tante Liesbeth genierte sich vor ihrem Ehrengast, Doktor Leitner. Ihr Mann konnte sich ihretwegen diese gewöhnlichen Bohnsacks sauer braten lassen. Doktor Leitner nahm hinter seiner feinen Goldrandbrille das Erscheinen einer Zigeunerin vorurteilsfrei zur Kenntnis, stieß auf Tante Liesbeths Wunsch sein Eierlikörglas an das ihre und wurde erst verlegen, als sie die Situation nutzte, ihm zu danken, daß ihr Sohn auf der Welt war; denn dies sei sein Verdienst.
    Eine unglückliche Formulierung, fand Charlotte.
    Konnte Nelly die Zigeunerin unter vier Augen fragen, was ein Siebenmonatskind ist?
    Der fröhlichen Tante Lucie Schicksal war und blieb nichts und niemand anders als Onkel Walter, der Mann ihres Lebens. Gut zu wissen, auch für Walter. Dem nun wieder, Onkel Walter Menzel, hatte das Schicksal wie jedem rechten Mann seine Arbeit als Lebensziel zugedacht, sein Fortkommen, das für die Zigeunerin auf der offenen Hand lag. Er würde es ihnen zeigen, wohin ein Schlosser es bringen konnte. Meister bei Anschütz& Dreißig zu werden war ja gewiß beachtlich, aber für Walter doch nur der Anfang (womit die Zigeunerin recht hatte, obwohl damals noch niemand wissen konnte, daß Walter Menzel in der gleichen Firma, in die er als Lehrling eingetreten war, zum Bereichsleiter, zum stellvertretenden Betriebsleiter, ja zum Betriebsleiter aufsteigen würde, was ihm im Krieg die u. k.-Stellung einbrachte, da Anschütz & Dreißig dazu übergegangen waren, an Stelle von Landmaschinen irgendwelche verzwickten Einzelteile herzustellen, deren kriegswichtige Bestimmung sogar der alte Anschütz –

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