Kindheitsmuster
sie sich legte wie in einen Sarg. Du aber, neunundzwanzig Jahre später, wirst dich fragen müssen, wieviel verkapselte Höhlen ein Gedächtnis aufnehmen kann, ehe es aufhören muß zu funktionieren. Wieviel Energie und welche Art Energie es dauernd aufwendet, die Kapseln, deren Wände mit der Zeit morsch und brüchig werden mögen, immer neu abzudichten.
Wirst dich fragen müssen, was aus uns allen würde, wenn wir den verschlossenen Räumen in unseren Gedächtnissen erlauben würden, sich zu öffnen und ihre Inhalte vor uns auszuschütten. Doch ist das Abrufen der Gedächtnisinhalte – die sich übrigens bei verschiedenen Leuten, die akkurat das gleiche erlebt zu haben scheinen, bemerkenswert unterscheiden – wohl keine Sache der Biochemie und scheint uns nicht immer und überall freizustehen.
Wäre es anders, träfe zu, was manche behaupten: Daß die Dokumente nicht zu übertreffen sind und den Erzähler überflüssig machen.
4
Brauchen wir Schutz vor den Abgründen der Erinnerung?
Unaufschiebbare Frage, zu der die anstrengende Bewegung in verschiedenen Zeiten unvermeidlich führt. In diesem milden Januar des Jahres 1973, da die Meldungen über einen nahe bevorstehenden Waffenstillstand in Vietnam sich erneut verdichten und der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika – perfekt in jener im letzten Drittel dieses Jahrhunderts zur Vollkommenheit getriebenen Form der Heuchelei, die außerstande ist, sich selbst zu erkennen – der Welt eine lange Epoche dauerhaften Friedens prophezeit, ohne vom Ausbleiben der weltweiten Erleichterung zu erfahren, die ja von seinen Geheimdiensten nicht registriert wird, schon weil sie nicht instand gesetzt wurden, danach zu fragen: In diesen Tagen setzt du, an die täglichen Arbeitsstunden ebenso gebunden wie an die Willkür einer Kapiteleinteilung, eine 4 oben auf die neue Seite, um dieses Kapitel, deinem Plan gemäß, der Schilderung einer Tauffeier und der Legende vom Zustandekommen einer Hochzeit zu widmen: Ereignisse, die in die Jahre 1935 und 1925/26 fallen, in Zeiten, die Nelly überhaupt nicht oder als so kleines Kind erlebt hat, daß ihr Zeugnis kaum brauchbar ist. Man kennt ja das nachlässige Gedächtnis der Kinder, das nur die bunten, strahlenden und die schrecklichen Ereignisse der Aufbewahrung für wert hält, nicht aber die alltäglichen Wiederholungen, die das »Leben« sind.
Heute ist heute, und gestern ist dahin, kein Zweifel.
Falls es strafbar ist, die Grenzen zu verwischen ... Falls es strafbar ist, auf die Grenzen zu pochen ... Falls es stimmt, daß es niemandem gelingt, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen ...
Nelly ist die Vorstellung, daß sie einmal nicht auf der Welt war, immer unerträglich gewesen. (Dieser Satz, der als »wahr« gelten kann, muß unter eine Menge halbwahrer oder erfundener Sätze vermischt werden, welche ihrerseits, mehr noch als die »wahren«, wie bare Münze klingen müssen. Der Hochmut, sich nicht täuschen zu wollen, führt auf geradem Weg in die Sprachunmächtigkeit. Das ist dir bekannt.) »Realitätssinn.« Kaum ein Wort, das heutzutage häufiger gebraucht würde: Realitätssinn als Forderung, als Leistung, die man sich selbst bescheinigt – vielleicht hätte er sich gerade an jenen Splittern zu beweisen, die die Zeitgeschichte in uns ablagert und die wir sorglos als »Realität« zu nehmen gewohnt sind: dann nämlich, wenn das Material, eine Art Urschlamm, durch Verformung jene Struktur angenommen hat (ebenfalls hochmodern, das Wort), mit der wir »etwas anfangen können«. Ein Buch zum Beispiel. Daß vor seiner Entstehung schon, vielleicht unbemerkbar, die Verfälschung beginnen könnte ... Gegenstandslose Fragen, als Vorwand für tatenlose Melancholie.
Zwangspause schon zu Beginn – Januar 1971. Stunden vor dem Fernsehschirm, auf welchem dem Raumschiff Apollo 14 nach fünf vergeblichen Kopplungsmanövern schließlich das sechste glückt. Die Versicherung, unter allen Umständen würden die Astronauten Shephard und Mitchell auf dem Mond landen. Aus Prestigegründen schon. Die Känguruhsprünge der beiden vorder auch nicht mehr neuen Kraterlandschaft konnten dir dann kein wirkliches Interesse mehr abnötigen. Alarmierendes Symptom, vielleicht, aber du warst nicht alarmiert.
Ein brennendes Interesse hättest du – was nun wirklich unrealistisch ist – an einem simplen Fernsehinterview mit Bruno Jordan aus dem Jahre 34, in dem der Reporter den Einzelhändler höchstwahrscheinlich über seine Meinung
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