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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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aufeinander reagieren werden.
    Eine Familie, sagte H. (ihr seid, immer noch auf der Landstraße, immer noch unterwegs nach L., heute G., auf Vetter Manfred zu sprechen gekommen), eine Familie ist eine Zusammenrottung von Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts zur strikten Verbergung gemeinsamer peinlicher Geheimnisse. Lenka gefällt der Ausspruch, obwohl sie ihm nicht zustimmen kann. Oder welches wären die Geheimnisse, die ihre Eltern ihr vorenthalten? Du siehst: Auch H. überlegt. (Das Geheimnis, kein Gesprächsgegenstand zwischen euch, existiert. Es wissen und annehmen.) Lenka, in diesem mühseligen Alter zwischen Kindheit und Erwachsensein, will nicht mit fremden und kann nicht ohne eigene Geheimnisse leben. Sie hofft und fürchtet zu gleichen Teilen, daß man auch von den Nächsten nicht »das Letzte« wissen muß. – Nicht alles, sagst du, was man für sich behält, ist ein Geheimnis. – Woran man das Geheimnis dann erkennt. – An dem Druck, sagst du, den es auf dich ausübt. Dabei fällt dir auf, wie stark sich Familiengeheimnisse von einer zur anderen Generation verändern.
    Doktor Leitner soll seine Praxis genau über der Wohnung von Tante Liesbeth gehabt haben, in der Innenstadt,das Haus wird ja abgebrannt sein. (Nachtrag von der Reise: Es ist abgebrannt; derjenige Teil der Straße, zu dem es gehörte, ist mit einer Doppelzeile neuer Wohnhäuser bebaut, in deren Erdgeschoß große Schaufenster Elektrowaren, Kühlschränke, Waschmaschinen, Küchenherde präsentieren.)
    Vor der sogenannten Machtübernahme war es also im wahrsten Sinn des Wortes naheliegend, daß Tante Liesbeth eben diesen Arzt konsultierte und keinen anderen: Wir hatten nichts gegen Juden. Nach außen hin mag ihre spätere krankhafte Abhängigkeit von Ärzten noch verdeckt gewesen sein, und die gelegentlichen Wutanfälle ihres Mannes disqualifizieren nur ihn, nicht sie. Die Wutanfälle häuften sich natürlich nach den ersten offiziellen Maßnahmen gegen die Juden, aber Tante Liesbeth blieb ihrem Arzt treu. Das wäre ja noch schöner, hat sie wahrscheinlich in ihrem unnachahmlichen Tonfall gesagt, gegen den ihr Mann einfach nicht aufkam – auch später nicht, als sie schon nervös, sehr nervös geworden war – und gegen den er nur anbrüllen konnte, ohne Erfolg.
    Wie nun im einzelnen am 1. April des Jahres 1933 der fällige Boykott der SA gegen die Arztpraxis des Juden Jonas Leitner durchgeführt wurde – darüber wußte auch Charlotte nicht Bescheid, hatte ihre Schwester also nicht befragt. Am wahrscheinlichsten: Der SA--Doppelposten hat sich unten vor der Haustür postiert, neben dem weißen Emailleschild, und hat diejenigen Personen, die Einlaß begehrten, ohne sich als Hausbewohner ausweisen zu können, daran gehindert, ihren arischen Körper einem Nichtarier auszuliefern.
    (Nicht registriert ist natürlich, ob auch nur ein einzigerPatient an jenem Tag versucht hat, den Doktor Leitner aufzusuchen. Vermutung: Die beiden SA-Männer standen arbeitslos herum und langweilten sich.) Vielleicht hatte Leitner einfach seine Praxis geschlossen und war, was er gerne tat, die zwei D-Zug-Stunden in die Reichshauptstadt gefahren, wo man noch Hotelzimmer an Juden vermietet haben soll und wo er mit Vorliebe am Theaterleben teilnahm. (Wie du diesen Mann, den du bewußt niemals gesehen hast, inzwischen zu kennen glaubst, hat er, im Zuge sitzend, etwas wie ein vertracktes Lächeln aufgebracht bei der Vorstellung, daß nun zwei stramme SA-Männer den ganzen Tag lang seine leere Wohnung bewachen mußten.)
    Liesbeth und Alfons Radde sind ja dann sehr bald nach der Taufe von Manilein umgezogen, und zwar in die Ludendorffstraße, in ein Eckhaus jenseits des Stadtparks. Genau wußte keiner, warum. Größer war die Wohnung kaum, drei kleine Zimmer. Und dunkel, wie gesagt. Alfons hatte es sogar ein Stück weiter zum »Geschäft« (so pflegte er Otto Bohnsacks dreckigen Getreidehof nun mal zu nennen).
    Doktor Leitner hat ja noch lange nicht daran gedacht, unstet zu werden, wie die Zigeunerin es ihm nahegelegt hat. Er ist schon zehn Jahre hier. Es gefällt ihm soweit ganz gut, die Stadt ist nicht schlechter als andere Städte, auch nicht besser. Nicht alle Leute grüßen ihn noch, die ihn früher gegrüßt haben. Es gibt aber einige, die es beibehalten haben, sogar in der Öffentlichkeit. Doktor Leitner zieht den Hut vor jedem Bettler; aber wenn er von ferne spürt – und er spürt es –, daß einer, der ihn zwar kennt, der vielleicht sogar abends mal

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