Kindheitsmuster
gottseidank, sagte er – nicht kannte). Selbst Onkel Walter, bei weitem Nellys Lieblingsonkel, kam nicht in Frage als Auskunftsperson über den Begriff Siebenmonatskind.
Dann war ja die Zigeunerin auch schon bei Onkel Alfons Radde, dem Kindesvater, der zu ihr herausfordernd: Na, junge Frau? sagte, was unpassend war. Das Unanständige und Traurige folgte später. – Na, junger Mann? gab sie ihm zurück und betrachtete lange seine linke Innenhand, während er mit der Rechten schnell noch einen Kognak kippen mußte. Bei der Taufe unseres Sohnes lassen wir uns nicht lumpen, in keinster Weise. Später kommt Sekt.
Jaijaijai, junger Mann.
Das sollte eine Wahrsagung sein? Die ziert sich ja wie die Zicke am Strick.
Jewißdoch, sagte die Zigeunerin. Gleich doch. – Es kam aber nichts mehr. Die Zigeunerin hatte Alfons Raddes Hand fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, fand Charlotte Jordan. Kann ja immer auch alles gut gehn, sagte sie bloß noch. Muß aber nicht.
In Liesbeth Raddes Hand wollte sie erst gar nicht blicken.Die drückte sie nur mit ihren beiden schrumpligen Händen und sagte, was ja jedermann wußte: Ihr Schicksal war das Kindchen nebenan, das groß und gesund und stark werden wird, und schön und begabt dazu.
Hören Sie das! rief Tante Liesbeth aus, sprühend schon wieder, und machte Miene, Doktor Leitner um den Hals zu fallen, der sie allerdings zur Besinnung brachte, indem er heftig an seiner Brille rückte. Daß ein Mann erröten konnte, hätte Nelly nicht gedacht. Dadurch schied auch Doktor Leitner, zu dessen stillem, vornehmem Wesen Nelly ein Zutrauen gefaßt hatte, aus der Reihe möglicher Ratgeber zum Problem Siebenmonatskind aus.
Er wollte der Zigeunerin nicht erlauben, ohne Weissagungen an ihm vorüberzugehen. Auch er habe, obwohl hier allerdings Gast, immerhin ein Recht auf ein Schicksal. Oder nicht?
Jesses Kochanni. Beschrei es nicht, mein Sohn.
Vetter Manfreds Taufe fiel in den Frühherbst des Jahres 35. Es war der allerletzte Monat, in dem Otto Bohnsack (Getreide und Futtermittel) es sich, nach einigem Zögern, nach Beratung mit seiner Frau, leisten konnte, sich mit einem Juden an einen Tisch zu setzen. (Du wirst doch vermerkt haben, daß Doktor Leitner Jude war?) Nun sagte also die Zigeunerin du zu ihm, und Nelly entschied bei sich, daß es nicht unpassend war. Nein.
Gutgut, sagte die Zigeunerin weiter zu Doktor Leitner. Gar nicht so dumm bist du, auch beinah weitsichtig, könnte man sagen.
Was meinen Sie, gnädige Frau?
In allem Ernst sagte Doktor Leitner »gnädige Frau«zu der Zigeunerin, und auch das war nicht unpassend. Keiner lachte.
Ach du mein Sohn. Was werd ich schon meinen. Junggeselle bist doch. Bist und bleibst es. Unverheiratet, unbeweibt, ungebunden. Kannst kommen und gehen, wie du willst und mußt. Verstehst das?
Wenn aber einer gar nicht gehn will, liebe gnädige Frau?
Ach du heilige Mutter Gottes. Bist noch recht jung. Will und will – so redet die Jugend. Wirst wollen, eines Tages. Wirst gehn. Unstet werden. Wirst gehen wollen müssen. Wirst dir die Sorgen um Nachkommenschaft aus dem Kopf schlagen. Was soll Ahasver, der durch die Welt irrt, mit Weib und Kind.
Schluß! sagte endlich Alfons Radde. Schluß mit dem Blödsinn.
Nelly muß noch ihren Anteil an der Prophezeiung gefordert haben. Richtig: Sie muß bei Vetter Manfreds Taufe gewesen sein, denn niemals vergaß sie, was das alte Weib, das ernsthaft und gründlich ihre Handlinien studierte, ihr weissagte: Nun sieh einer das Marjallchen. Du sei mir man ganz ruhig. Da kann man ganz ruhig sein. Du bist in einer Glückshaut geboren, weißt das? Dir wird kein Haar gekrümmt werden.
So war es. Zweideutig, undurchschaubar, unheimlich. (Und alles ist eingetroffen. Oder etwa nicht!)
Zuletzt wurde es noch unanständig. Die Zigeunerin nahm am Ende der Tafel auf ihrem Sitzkissen Platz und entließ alsbald Töne, die nun wirklich nicht hierhergehörten. Das fanden alle, und Charlotte Jordan sprach es aus. Alles muß schließlich im annehmbaren Rahmen bleiben.
Jaja, sagte die Zigeunerin. Mit der Verdauung immer. Haben tut sie ja jeder, aber wer gibt es schon zu?
Tante Emmy trieb es wie immer ein bißchen weit – Charlotte Jordan hat mit den Jahren manches milder betrachten gelernt – aber an jenem Nachmittag war wirklich nicht sie das Schlimmste. Der ganze Nachmittag, die ganze Feier fand auf des Messers Schneide statt. Beide Eltern des Täuflings laden sich Ehrengäste ein, von denen nicht zu ahnen ist, wie sie
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